Die Europawahl hat Europa-feindlichen Parteien Zulauf gebracht. Auch die Regierung des größten EU-Landes hat Federn gelassen. Entscheidungen der EU könnten jetzt noch schwieriger zu treffen sein. Mit dieser Lethargie verlöre Europa gegenüber den USA und Asien noch mehr an wirtschaftlichem und geopolitischem Gewicht. An Europas Finanzmärkten haben die Wahlergebnisse bereits negativ gewirkt. Bleibt eine echte „Zeitenwende“ weiter aus, werden politische Börsen in Europa immer längere Beine haben.
Die EU steht in einem scharfen Wettbewerb speziell mit den USA und Asien. Und Asien ist nicht nur China, sondern eine ganze Reihe aufstrebender Länder wie Indien. Dabei geht es längst nicht mehr nur um High-Tech, wo Europa schon den Anschluss verpasst hat. Unsere Konkurrenten greifen ebenso nach den Kronjuwelen Europas und vor allem Deutschlands, unserer industriellen Basis.
Und den „Verbündeten-Rabatt“ gewährt uns Amerika auch nicht mehr. Früher als Deutschland als Frontstaat zum Warschauer Pakt noch große strategische Bedeutung hatte, wurden wir von Washington verwöhnt wie Einzelkinder. Wir wurden gefördert, nicht gefordert.
Heute dagegen verhält sich Amerika als Rabenmutter. Die neuen Hätschelkinder sind die Schwellenländer ex China. Darüber kann auch die Freundlichkeit von Joe Biden gegenüber europäischen Politikern nicht hinwegtäuschen. Und mit einem Präsidenten Trump wird Amerika uns Europäer noch „freundlicher“ begegnen. Jeder ist sich selbst der Nächste und die USA stehen direkt neben sich. Amerika führt eine dramatische Reindustrialisierung auch auf Kosten seiner früheren Schutzbefohlenen durch. Amerika weiß, dass man geopolitisch nur kraftvoll zubeißen kann, wenn das wirtschaftliche Zahnfleisch gesund ist.
Im Gegensatz dazu vernachlässigt Europa seine „Zahnpflege“, seine Innovationen, Perspektiven und Wohlstand. Und wer glaubt, die EZB als Zahnersatz, als billige Geldschleuder für substanzloses Wachstum zu missbrauchen, sorgt am Ende nur für Karies in Form von Inflation, die Kaufkraft frisst.
Sich als Politiker jetzt nach der Wahl nur über Europa-Feindlichkeit zu beschweren, ist die falsche Reaktion. Die zu stellende Frage ist: Wie konnte es so weit kommen?
Ebenso ist es keine Lösung, die aktuelle Politik besser zu erklären, die offensichtlich an der Lebensrealität auch vieler junger Wähler vorbeigeht. Eine schöne Verpackung ist aber sinnlos, wenn der Inhalt, die Politik, nicht stimmt.
„Sag beim Abschied leise Servus“ heißt es in einem Schlager von Peter Alexander. Der wird bei europäischen und deutschen Unternehmen immer hitverdächtiger, die aufgrund des Beziehungsstresses auf dem alten Kontinent mit attraktiveren außereuropäischen Standorten fremdgehen. Dazu sind sie gezwungen, um im internationalen Wettbewerb am Ball zu bleiben. Und als neuen europäischen Exportschlager nehmen sie leider Arbeitsplätze mit.
Wenn in Europa weiterhin nur Kontinuität und Weiter so gilt, statt die Zeitenwende einzuläuten, bleiben die Beine der politischen Börsen nicht kurz, sie werden immer Giraffen-ähnlicher. Bereits aktuell sind die Risikoaufschläge von italienischen, spanischen und französischen Staatsanleihen zu deutschen gestiegen. Eine Trendfortsetzung ist unerwünscht. Wir sollten nicht in die dunklen Zeiten der Schulden- und Eurokrise zurückfallen, die früher oder später auch zu höheren Risikoprämien an den europäischen Aktienmärkten führt.
In den Mitgliedsländern muss der Fuß von der Wachstumsbremse, um erkennbare Perspektiven für die Menschen zu schaffen. Soziale Marktwirtschaft, unternehmerische Freiheit und Leistungsprinzip müssen Vorrang vor staatwirtschaftlicher Einmischung mit moralischem Übereifer haben.
Auch geht es um die Lockerung der Schuldenbremse in Deutschland. Wenn unsere Konkurrenten ihre Häuser kernsanieren, können wir nicht nur die Klingel austauschen. Allerdings gibt es dafür drei Bedingungen. Erstens darf der Staatshaushalt nicht tabu sein. Alle Positionen müssen TÜV-ähnlich auf Sinnhaftigkeit überprüft werden. Zweitens dürfen die neuen Finanzmittel nur der Gesundung der Standortbedingungen zugutekommen. Und drittens - ganz wichtig - hat die Mittelverteilung nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen, nicht nach politischem Gutdünken zu erfolgen. Der Staat setzt wirtschaftsfreundliche Rahmenbedingungen, spielt aber nicht mit. Er hat unzählige Male bewiesen, dass er dazu nicht fähig ist. Es sollten nicht noch mehr Versuche gestartet werden.
All das hinzubekommen, ist eine Herkulesaufgabe, zumal auch der europäische Zusammenhalt und die Zugkraft aller Mitgliedsländer gestärkt werden muss, die oft genug lieber ihre eigenen nationalen Süppchen kochen. Da haben es China und Amerika leichter, die durchregieren können.
Aber haben wir eine andere Wahl? Ein Haufen unorganisierter europäischer Hühner würde von den Füchsen in China oder Amerika schnell gerissen. Und dann geht es uns erst richtig dreckig.
Mögen die Politiker den Schuss nach der Europawahl gehört haben. Viele Schüsse haben sie nicht mehr frei.