Gemäß letzter Sitzung rechnet die US-Notenbank mit mehr Wachstum bei solider Beschäftigung. Um den Inflationsdruck kleinzuhalten, tönt sie ziemlich zinsrestriktiv. Doch warum lässt die Fed ihren aktuellen Leitzins dann unverändert? Steht nicht in jedem Lehrbuch, Preisgefahren vorbeugend zu bekämpfen, um sie später nicht wie Unkraut wuchern zu lassen? Hat die Fed aus ihrem Fehler eines zu späten Beginns des Zinserhöhungszyklus nichts gelernt? Wie passt das alles zusammen?
Laut Fed-Chef Jerome Powell ist der Zinserhöhungsprozess noch nicht beendet, 2024 solle es nur zwei statt vier Senkungen geben. Und der erste Zinsschritt Richtung Süden werde auch erst spät im Jahr erfolgen. 2025 sei dann mit einer Senkung auf jahresendlich 3,9 Prozent zu rechnen, was absolut aber immer noch nur eine überschaubare Zinssenkungsphantasie wäre. Zins- und Aktienmärkte reagieren wie Kinder, die Angst vor dem Gewitter haben.
Mittlerweile liegen die (Leit-)Zinsen bzw. Anleiherenditen in den USA auf real positivem Niveau, also nach Inflation. Damit ist der freie Mittagstisch, sich über Weginflationierung der Verschuldung zu entledigen, nicht mehr verfügbar. Das bremst natürlich das Kreditwachstum, weil der Schuldendienst aus eigener wirtschaftlicher Kraft erwirtschaftet werden muss. Gleichermaßen restriktiv wirkt die inverse US-Zinsstrukturkurve: Der teuren kurzfristigen Mittelaufnahmen der Geschäftsbanken bei der Fed stehen margenarme Kreditausleihungen an Verbraucher und Unternehmen gegenüber. Für eines der „kreditdrogenabhängigsten“ Länder der Welt ist das weder wachstums- noch inflationsfördernd.
Und was ist mit den sehr happigen Lohnforderungen der amerikanischen Auto-Gewerkschaften? Könnten sich diese zu einer landesweit massiven Lohn-Preis-Spirale entwickeln, den rückläufigen Inflationstrend wieder umkehren und die Fed zu klaren Zinsrestriktionen zwingen?
Zunächst, wegen der ordentlichen Finanz- und Gewinnlage kann die Autoindustrie hohe Lohnerhöhungen einigermaßen verkraften. Zudem sollten die Gewerkschaften nicht überreizen. Wenn alle drei großen Autobauer bestreikt werden, sind die Streikkassen nach ungefähr elf Wochen leer. Auch sollte ihnen bewusst sein, dass für die immer größere Produktion batteriebetriebener Autos über 30 Prozent weniger Arbeiter als für klassische Pkw und Lkw mit Verbrennungsmotor benötigt werden, was den aktuellen Facharbeitermangel und entsprechenden Lohndruck relativiert. Zudem wird die Künstliche Intelligenz immer stärker Einzug in die Fabrikhallen finden und Arbeiter ersetzen. Und nicht zuletzt steht mit dem Nachbarland Mexiko ein attraktiver Alternativstandort zur Verfügung.
Und der Ölpreis? Die Opec+, vor allem Russland und Saudi-Arabien, wissen, dass sie preislich nicht überreizen dürfen. Ansonsten werden sinkende Mengen- die Preiseffekte überkompensieren.
Nicht zuletzt hat sich eine US-Notenbank im Zweifel eher staatstragend für die Wirtschaft als für Preisstabilität entschieden. So war es schon bei der Bekämpfung des „evil empire“ in den 80er-Jahren. Der Zweck heiligt die Mittel. Und der aktuelle ist besonders heilig: Zurzeit kämpft Amerika vor allem gegenüber China um die wirtschaftliche und geopolitische Oberhoheit, um America first. Diesen Wettstreit will Washington mit dem Instrument weiter rasanter Neuverschuldung gewinnen. Auch dieses Mal ist nicht zu erwarten, dass die Fed die amerikanische Suppe versalzen wird. Sowieso sind im nächsten Jahr Präsidentschaftswahlen, bei denen man sich geldpolitisch traditionell eher zurückhält.
Überhaupt muss man sich vor Augen führen, dass Amerika aktuell mit über 33 Bill. US-Dollar in der Kreide steht und seine Staatsverschuldung ca. 123 Prozent seiner Wirtschaftsleistung entspricht. Aktuell liegt das Haushaltsdefizit bei ca. sieben Prozent. Schuldenbesserung ist also nicht in Sicht, im Gegenteil. Amerika zahlt mittlerweile über 700 Mrd. US-Dollar Zinsen pro Jahr. Die Fed muss aufpassen, dass Uncle Sam nicht mit einem Pleitegeier verwechselt wird.
Natürlich kann die Fed jetzt nicht die weiße Zinsfahne schwenken und die Zinssenkungsphantasie ausrufen. Noch ist die Inflation zu hoch. Sie kann aber auch nicht markant restriktive Zinspolitik betreiben, was der Finanz- und Konjunkturstabilität schadet. Das soft landing soll nicht riskiert werden.
Sie hat offenbar einen Mittelweg der Marke „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“. Auf der einen Seite wird mit der bewusst harten Rhetorikkeule verbal auf die Inflation eingeschlagen, um dem gebannt zuhörenden Finanzpublikum zu suggerieren, dass Preissteigerungen nicht hingenommen werden. Zu diesem Zweck passt, dass die letzte Zinserhöhungs-Patrone nicht abgeschossen wird. Denn wenn die Zins-Trommel einmal leer ist, geht auch die Inflations-Abschreckung ins Leere.
Auf der anderen Seite hofft sie, mit der Kraft dieser Worte auf tatsächlich restriktive Zinspolitik verzichten zu können. Ohnehin hat der Leitzins mittlerweile ein Niveau erreicht, dass die Fed mit einer variablen Zinspause die Dinge einfach einmal laufen lassen kann.
Übrigens, ihre Konjunktur-, Inflations- und Zinsvisionen waren in der Vergangenheit oft genug wenig treffend und wurden gerne angepasst. In Stein gemeißelt ist nichts.
Grundsätzlich hofft die Fed, dass die Zeit viele Inflationswunden heilt. Im Trend ist die Inflation rückläufig und der Preisdruck auf der Produzentenseite nimmt merklich ab und wird so weniger an die Verbraucher weitergegeben. Ohnehin reitet die Fed regelrecht auf der sinkenden Kern-Inflation herum. Auch damit sendet Powell ein klares Signal an die Märkte.
Jerome Powell ist ein kluger Fuchs. Er beherrscht auch das Zins-Spiel ohne Ball. In meiner rheinischen Heimat sagt man dazu mit höchster Wertschätzung: Einem alten Affen braucht man das Grimassen schneiden nicht mehr beibringen.
Es ist zu erwarten, dass auch die EZB diese Erfahrungen aus dem amerikanischen Tierreich beherzigt.