Gibt es Börsenregeln, an denen man sich wie an „Heiligenbildern“ festhalten kann? Eine der bekanntesten lautet: Im Mai, vor den schwachen Sommermonaten, seien Anleger gut beraten, ihre Aktien zu verkaufen. Dann im September sollten sie zurückkommen, um von der Jahresendrallye zu profitieren. Doch besitzt diese Regel tatsächlich statistische Relevanz, aus der sich auch eine Gesetzmäßigkeit für die Börsenentwicklung 2023 ableiten lässt?
Im Vereinigten Königreich im 17. und 18. Jahrhundert war die englische Oberschicht an der Börse in London weitgehend unter sich und bestimmte insofern den Aktienverlauf. Und während man vor der Sommerpause sehr aktiv war, zog man sich anschließend aufs Land zurück, um sich vielfältigen Lustbarkeiten hinzugeben. Um diese in Ruhe genießen bzw. bezahlen zu können, wurden die Positionen vorher verkauft. Nach der Sommerfrische kehrte man an die Börse zurück, um vom September-Effekt zu profitieren.
Auch gab es damals kaum Einflüsse von außen. Die Geschicke der Welt bestimmte die angelsächsische Weltmacht selbst. Und die britische Politik nahm nur die Rolle der Schiedsrichter ein, die das Börsenspiel ansonsten laufen ließ.
Heutzutage jedoch werden die Außeneinflüsse immer größer. China und Indien z.B. sind für die (Finanz-)Welt längst von Bedeutung und scheren sich nicht um antiquierte westliche Saisonalitätsmuster. Ohnehin passiert irgendwo auf dem Globus immer irgendwas, das aufgrund der Globalisierung auch irgendwann die westlichen Börsen erreicht.
Vor allem aber hält sich heutzutage die internationale Fiskal- und Geldpolitik nicht mehr wie früher vornehm zurück. Aus Schiedsrichtern wurden die eigentlichen Spielmacher auf dem Börsenfeld. Egal, um welche Krise es geht, mittlerweile geht die internationale Rettungspolitik auch in der heißen Jahreszeit nicht in die Sommerpause.
Und wie relevant ist die Mai-Regel in der Neuzeit? In den letzten 33 Jahren hat der deutsche Leitindex während des Sommers 18-mal Kursverluste ausgewiesen, 15-mal kam es zu Aufwärtsbewegungen. Im Sommerloch 2015 wurde die Griechenland-Krise gelöst, was dem DAX anschließend ein Plus von 20 Prozent bescherte. Und im Mai 2022 nahm die Rallye angesichts der üppigen staatlichen und geldpolitischen Corona-Hilfsaktionen richtig Fahrt auf. Schade, wenn Aktienanleger damals die Mai-Regel befolgt haben.
Immerhin ist der DAX seit Jahresbeginn etwa 13 Prozent im Plus, im intakten Bullenmarkt. Spricht dies nicht nach deutlichen Gewinnmitnahmen, zumal Inflation, Zinsangst, Bankenprobleme, Konjunkturschwächen oder Krieg nicht zu leugnen sind?
Offensichtlich sind die Märkte an die schlechten Rahmendaten seit Monaten gewöhnt. Sie schocken sie nicht mehr. Zukünftig sind für die Börsenentwicklung weniger die Krisen an sich von Bedeutung, sondern wie sie sich entwickeln, zum besseren oder schlechteren.
In puncto Inflation lässt der Rückgang zwar noch zu wünschen übrig, aber er findet statt. Ohnehin sind Überschuldung, Standortdefizite und Konjunkturschwächen so dramatisch, dass Notenbanken, statt klassische Inflationsbekämpfung zu betreiben eher -toleranz zeigen müssen. Tatsächlich erwarten die Märkte ein Ende der Zinserhöhungen von Fed und EZB im Sommer 2023. In den USA wird sogar über Zinssenkungen im Herbst diskutiert. Übrigens wird die Inflation in Europa über den Zinsen bleiben. Die Aktien- hat von der realen Zinsseite also wenig zu befürchten.
Und ist die Konjunktur ein Handicap? 2023 wird sicher kein Wirtschafts-Wunderjahr. Doch verspricht 2024 Besserung über China, was die europäischen Export- bzw. Industrieaktien beflügelt. Daneben sorgt die geldpolitische Entspannung im kreditdrogenabhängigen Amerika für wieder attraktivere und damit wachstumsbegünstigende Kreditzinsen.
Nicht zuletzt ist die Anlegerstimmung trotz robuster Aktienmärkte nicht euphorisch. Die Zukunftserwartungen sind sogar sehr verhalten. So liegt die Investitionsquote von US-Fondsmanager bei wenig berauschenden 50 Prozent und werden hohe Absicherungen gegen Kursverluste gefahren. Vor diesem Hintergrund ist die Gefahr massiver Kursrückschläge begrenzt. Im Gegenteil, positive Überraschungen an den Krisenfronten werden den DAX 2023 wohl über die Schwelle des Allzeithochs tragen.
Ein Staatsbankrott in den USA, der durch die Nicht-Anhebung des Schuldenlimits ausgelöst würde, wäre sicher der Super-GAU für die weltweiten Finanzmärkte. Aber trotz regelmäßiger Krawall-Folklore der Demokraten und Republikaner wird kein Politiker den Untergang Amerikas und den zwangsläufig erfolgenden Aufstieg Chinas zur alleinigen Supermacht riskieren. Sie würden dann vermutlich im Potomac River in der Nähe von Washington ersäuft.
Und was ist mit der Krise der Regionalbanken in Amerika? Fed, Aufsichtsbehörden und Regierung werden dem Ausbluten der Institute durch ungehemmten Abzug von Kundeneinlagen nicht zuschauen. Die bereits erfolgten Rettungsaktionen werden fortgesetzt, um einer neuen Bankenkrise, die die letzte von 2008 mit allen Folgeschäden weit in den Schatten stellte, vorzubeugen. Es kann nicht sein, was nicht sein darf.
Verheerend wäre sicher ebenso eine militärische Eskalation Chinas in Taiwan. Doch würde China damit drakonische Sanktionen riskieren, die seinen Außenhandel mit Europa und den USA zusammenbrechen ließen. Überhaupt sind die gewaltigen Misserfolge Putins in der Ukraine für Peking ein abschreckendes Beispiel. Und da China ebenso von der Versorgung mit den weltbesten Halbleitern aus Taiwan abhängig ist, deren Fertigungsstätten bei einer Invasion sicherlich in Mitleidenschaft gezogen würden, wird China nicht am Ast sägen, auf dem es sitzt.
Übrigens, wenn ein schwarzer Schwan auf die Börsenbühne träte, käme zur Unterstützung der Aktienmärkte eine wirklich zutreffende Börsenweisheit zum Einsatz: „Wo die Not am größten, ist die Geldpolitik am nächsten“.
Es kommt immer auf die konkret vorliegende Datenlage an und was der Markt daraus macht. Wenn Börsenregeln wirklich so weise wäre, gäbe es doch nur noch Aktien-Millionäre, oder? Nicht zuletzt würden professionelle institutionelle Anleger und Hedge-Fonds jede funktionierende Anlageregel durch entsprechende Spekulation und Wetten zerstören.
Selbst wenn im Sommer die Kurse fielen, ist das ja kein Grund, dem Aktienmarkt fernzubleiben. Gerade sinkende Kurse sind doch ein gutes Umfeld für regelmäßiges Aktiensparen als preisgünstige Form der langfristigen Altersvorsorge. Auch an der Börse gilt: Im Einkauf liegt der Gewinn.
Sowieso werden nicht alle Aktien entweder kollektiv nach oben oder nach unten getrieben. Die Börse ist wie ein großer Kleiderschrank. Irgendetwas passt immer: Mal Value, dann Growth, mal IT-Werte, dann wieder Zykliker, dann die Defensivqualitäten, mal die klassischen Energiewerte, dann die Umwelt- und alternativen Energietitel. Damit zerbröselt die absolut formulierte Mai-Regel noch mehr.
Insgesamt macht die Mai-Börsenregel nicht mehr Sinn als die Wetterregel: „Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter, oder es bleibt wie es ist.“