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Halvers
Kolumne

 
21.09.2022

Wir warten auf sinkende Inflationsraten wie Kinder auf das Christkind

Als wir noch klein waren, haben wir sehnsüchtig auf die Bescherung am Weihnachtsabend gewartet. Die Zeit bis dahin zog sich unendlich lang hin. Nicht anders ergeht es aktuell der Finanzwelt, die sehnsüchtig auf die Preisberuhigung wartet. Jedoch zeigt sich die Inflation bislang völlig stur und steigt sogar noch weiter. Wird das Warten auf sinkende Preissteigerungsraten zum Warten auf Godot?

Die Happy Hour geringer Inflationsraten ist vorbei. Zunächst trieb das wirtschaftliche Wiederanfahren nach Corona die Preise aufwärts. In der Erwartung einer zunehmenden Normalisierung der Wirtschaftswelt glaubten die Notenbanken nur an eine vorübergehende Preisbeschleunigung, die man nicht großartig behandeln müsse.

Spätestens mit dem Ukraine-Konflikt und seinen Folgen für Energiepreise ist diese Hoffnung auf „schnell nach oben, aber auch schnell wieder nach unten“ gestorben und wird keine Wiederauferstehung erleben.

Doch wie geht es jetzt weiter?

Grundsätzlich sind die Einschätzungsrisiken bei der Inflationsprognose gewaltig. Modellannahmen können sich je nach Gemengelage auch ins Gegenteil verwandeln.

Das sagen die Inflationspessimisten

Anhänger des weiteren Preisdrucks verweisen auf die hohen Erzeugerpreise als Vorboten einer fatalen allgemeinen Inflationsbeschleunigung. Diese sind im August wegen dramatisch gestiegenen Öl-, Gas- und Stromkosten um 45,8 Prozent förmlich explodiert.

Von Weitergabe der Energiekosten kann im Augenblick z.B. jeder Bäcker ein Liedchen singen. So viel habe ich noch nie für Brot bezahlt. Das werden nicht zuletzt die Enten am Teich spüren. Eher wird aus einem alten Stück Brot Paniermehl als dass es im Schnabel landet. Und wer momentan einkaufen geht und seinen Warenkorb in etwa gleich füllt, müsste Lügen, wenn er sagt, ich zahle das Gleiche.

Übrigens zahlen noch viele Verbraucher die alten Strom- und Gaspreise. Die Preiserhöhungsschreiben der Versorger laufen erst langsam ein. Und die richtig „frohe Botschaft“ kommt erst 2023 nach der Ablesung und Tarifanpassung. Und was passiert erst mit den Gaspreisen, wenn die Speicher in einem ungewohnt kalten Winter sich doch schneller leeren als die Wetteroptimisten der Regierung hoffen?  

Dann gibt es noch die Zweitrundeneffekte. Die Gewerkschaften verlangen die Abgeltung des Reallohnverlustes, was Unternehmen veranlassen könnte, die höheren Arbeitskosten in höheren Verkaufspreisen für Güter und Dienstleistungen weiterzugeben. Hohe Lohnzuwächse wegen teurer Energiepreissteigerungen gehörten in der Vergangenheit oft zusammen wie Erbsen und Möhrchen.  

Preisrisiken liegen auch in der Lieferkettenproblematik und dem weiteren Verlauf des Corona-Virus. Wenn die Wiedereröffnung Chinas auf sich warten lässt und/oder die Lauterbachs dieser Welt streng Prusseliesen-haft (schauen Sie bei Pipi Langstrumpf nach) handeln, würde erneute Knappheit von Rohstoffen und Vorprodukten die Einstandskosten der Unternehmen noch weiter steigen lassen.

Das sagen die Inflationsoptimisten

Es könnte aber auch anders kommen. Konsumenten sind flexibel. Aus Gründen des Kaufkraftverlustes und aus Zukunftsangst befriedigen sie im Augenblick eher ihre Grundbedürfnisse mit günstigen Artikeln und stellen anderen Schnick-Schnack zurück. Das signalisiert nicht zuletzt eine Konsumstimmung wie auf dem Friedhof. Dieses Kaufverhalten konnte bereits während der Ölpreiskrisen beobachtet werden. Ich erinnere mich, dass damals das Geld zusammengehalten wurde wie ein Schatz. Damit greifen massive Kostenweitergaben der Unternehmen wegen Käuferstreik ähnlich ins Leere wie die Zahnbürste bei fehlenden Zähnen. Es wird z.B. bei Möbeln wahre Rabattschlachten geben.  

Und natürlich wird Vater Staat weiter in die Energiepreise eingreifen. Gelbwestenproteste wie in Frankreich sind für an Wiederwahl denkende Politiker nicht erwünscht. Zunächst kommt es zu einer Strompreisgrenze. Sinnvoll wäre es zudem, auf die „Von hinten durch die Brust ins Auge“-Gasumlage zu verzichten. Welchen Sinn macht es, erst die Gaskunden zu schröpfen und anschließend Wohltaten zu verteilen? Zunächst sollte sich der Staat wie jetzt im Falle Uniper direkt an den Energieunternehmen beteiligen. Wann immer die Krise verblüht sein sollte, muss er aber auch wieder verduften. Wehret den Anfängen der Staatswirtschaft!

Und wie bei Strom sollte auch eine Gaspreisgrenze für 75 Prozent des durchschnittlichen privaten Verbrauchs eingeführt werden. Das restliche Viertel orientiert sich an den jeweiligen Marktpreisen, um Anreize zum Sparen zu geben. Auch der Wirtschaft muss unter die Arme gegriffen werden. Das klingt zugegebenermaßen nicht nach Marktwirtschaft. Doch muss die mittelständische Industrie als unser größter Schatz mit gewaltiger Beschäftigungsstärke gestützt werden. Was einmal kaputt ist oder aus Wettbewerbsgründen abwandert, wird nicht wieder heil bzw. kommt nicht zurück. Ich hoffe, dass die mitunter vertretene, dümmliche These der „heilenden Kraft“ der Wirtschaftsschrumpfung nie Schule macht. Wirtschaftspolitik ist harte Arbeit und kein Platz für philosophische Gesundbetung.  

Wichtig dabei ist genauso, dass Politiker der Bevölkerung reinen Wein einschenken. Der Staat ist niemals in der Lage ist, Verbraucher finanziell so zu stellen wie vor der Energiekrise. Sonst übermannte uns die Staatsverschuldung, die als Bumerang von Steuererhöhungen zurückkommt.  

Grundsätzlich muss in puncto Energiepolitik pragmatisch schlaues Denken sture parteipopulistische Prinzipientreue ersetzen. Jede vorhandene Energieform muss maximal genutzt werden. Mit dieser „Wir haben verstanden“-Energiepolitik würde man ebenso den Terminmärkten für Strom und Gas Energie nehmen, die ansonsten die Preise aufheizen könnten wie Durchlauferhitzer das Badewasser. Und man würde auch Putin Dampf aus dem Kessel nehmen. In diesen wirtschaftlichen Zeiten geht es nämlich auch um Psychologie. Ludwig Erhard wusste das. So manchem seiner Nachfolger scheint es aber weniger um die Wirtschaft als um den Titel des Moralweltmeisters zu gehen.

Und wer weiß, was in Russland noch geschieht? Das Kriegsglück ist dem lupenreinen Demokraten offenbar nicht hold. Ebenfalls wird immer mehr Russen bewusst, dass ihr Land einen der sinnlosesten Kriege aller Zeiten führt, nur um der Selbstbefriedigung einer alten Sowjet-Nostalgie zu dienen. Und Putins angebliche Freunde werden es sich trotz Energie-Discount handelspolitisch nicht mit dem Westen verscherzen. Wenn dann auch noch Putins größter Weihnachtswunsch eines europäischen Wutwinters nicht in Erfüllung geht, der russische Wirtschaftsabschwung zunimmt und Europa von der russischen Gasdroge perspektivisch immer mehr loskommt, könnte Putins Stern tatsächlich fallen und mit ihm die (Energie-)Sanktionen und Preise. Das ist aber zugegebenermaßen noch alles Utopie.

In puncto Corona wäre es für die deutsche Wirtschaft geradezu Selbstmord, wenn man auch nur im Entferntesten an Schließungen wie in den letzten Jahren denken würde. Auf solche Ideen können nur Politiker kommen, die ihr Geld so oder so vom Steuerzahler erhalten. Und es wäre zumindest politische Selbstverstümmelung, wenn die KP in Peking ohne Rücksicht auf die zunehmende Wut der Chinesen die Wirtschafts-Schotten dichthält. Je mehr die chinesische Mauer geöffnet wird, umso mehr schwindet die teure Kostbarkeit von Vorprodukten.  

Nach der ersten Schockstarre ist jetzt die EZB mehr bereit gegen die hohe Preissteigerung vorzugehen. Auch wenn dem martialisch mit viel Schaum vor dem Mund betriebenen Kampfgeschrei aus Angst vor Rezession und Eurokrise keine entsprechend harte Geldpolitik folgt, sind die Zinserhöhungen dennoch ein Bremsfaktor für die Konjunktur und damit den Preisauftrieb.

Käme dieses Szenario zum Vorschein, würden eine nachlassende Konjunktur und im Vorjahresvergleich kräftig sinkende Energiepreise die Inflation ab Frühjahr 2023 wieder sinken lassen. Es klingt heute verwegen, aber bis Ende des nächsten Jahres wären sogar zwei Prozent keine Utopie.

Vorerst wird die deutsche Inflation in den nächsten Monaten jedoch - auch nach Prognose der Bundesbank - zweistellig werden. Es muss wohl erst schlimmer werden, bevor es besser wird. Dennoch kann man dem Inflationspessimismus zumindest mittelfristig gute Argumente entgegensetzen. Ein ewiges Warten auf Godot ist nicht zu erwarten. Das Christkind ist nicht in Rente gegangen.