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Halvers
Kolumne

 
09.06.2022

Das Märchen vom Kurswechsel der EZB

Oh Wunder, mittlerweile hisst selbst die zaudernde EZB die Fahne der Restriktion. Die Leitzinswende ist eingeläutet und Liquiditätsspenden werden nicht mehr verteilt. Das hört sich an wie Wind of Change, nach einem klaren Kurswechsel Richtung geldpolitischer Normalität bzw. Stabilität. Doch sind Zweifel mehr als angebracht.   

Die letzte Leitzinserhöhung der EZB liegt schon 11 Jahre zurück. Doch jetzt ist es wieder so weit. Aufgrund des dramatischen Inflationsdrucks konnten die bislang abwartenden Damen und Herren Geldpolitiker ihre Hände nicht weiter in den Schoß legen. Unsere Notenbank lässt sogar so etwas wie einen Stabilitätsfahrplan erkennen. Auf der Juni-Sitzung wird die Leitzins-Zeitenwende bekanntgegeben, die dann auf den Sitzungen im Juli, September, Oktober und Dezember mit Zinserhöhungen zu 0,25 Prozentpunkten Realität werden könnte. Im September ist auch eine Erhöhung um 50 Basispunkte möglich. Insgesamt stünde der Leitzins Ende 2022 bei etwa 1,25 Prozent. Gleichzeitig dreht die EZB den Liquiditätshahn zu.

Scheinbar ist die EZB dem Club der restriktiven Notenbanken beigetreten. Nach den vielen Irrungen und Wirrungen scheint sich die EZB plötzlich wieder an ihren Preisstabilitätsauftrag zu erinnern. Das klingt nach Strukturbruch. Der verlorene Sohn, besser gesagt, die Tochter kommt wieder zur Besinnung.

Die Worte hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube

Aber immer langsam mit der Verteilung von Stabilitäts-Lorbeeren. So wie ein bisschen Putzen die Wohnung nicht sauber macht, ist ein bisschen Zinserhöhung noch keine Stabilitätspolitik. Es geht nicht um das Ob von Zinserhöhungen, sondern um das Wieviel. Wir kennen zwar noch nicht die Zinspolitik der EZB ab 2023. Doch wenn man ihre Arbeit in den letzten Jahren unter die Lupe nimmt, fällt es schwer, ihr einen radikalen geldpolitischen Wechsel zu unterstellen. Die EZB wird die Sozialarbeiterin Europas bleiben.

Zunächst verträgt ein wirtschafts- und strukturschwaches, rohstoff- und exportabhängiges Europa weniger Zinsknute als die besser aufgestellten USA mit ihrem hohen Autarkiegrad. Und da Europa auch noch näher am ukrainischen Konfliktherd liegt, hat es insgesamt ein höheres Rezessionsrisiko als das Land am anderen Ende des Atlantiks.

Überhaupt hat die EZB nicht den Vorteil wie die US-Notenbank, sich nur um Uncle Sam kümmern zu müssen. Die EZB hat viele schutzbefohlene Töchter und Söhne, die sehr verschieden sind. Hätte die EZB allein Zinspolitik für Finnland, die Niederlande, Österreich oder Deutschland zu verantworten, hätten wir längst andere, viel höhere Zinsen.  

Wenn die geldpolitische Planwirtschaft geht, kommt die Marktwirtschaft verheerend zurück

Die europäische Kette ist eben nur so stabil wie ihr schwächstes Glied. Und es gibt einige muskelschwache Länder. Würde man ihnen das Stützkorsett der geldpolitischen Planwirtschaft komplett wegnehmen, geriete so manches überschuldete romanische Euro-Land in arge Finanznot. Käme es nach der renditedrückenden Liquiditätsschwemme sogar zu einer -austrocknung, wären also Faktoren wie Bonität wieder für Preise von Staatsanleihen bestimmend, stiegen ihre Kreditzinsen ähnlich wie heliumgefüllte Luftballons auf einem Kindergeburtstag. Ihre von der EZB künstlich geschaffene Happy Hour der Finanzstabilität wäre gefährdet.  

Tatsächlich haben Vertreter der südlichen Euro-Länder blanke Angst, eine zu restriktive Zins- und Liquiditätspolitik der EZB könne ihre künstliche Finanzstabilität gefährden.

An den Finanzmärkten ist bereits ein Auseinanderlaufen der Zinssätze zu beobachten. So haben sich die Risikoaufschläge anderer europäischer Länder zu deutschen 10-Jahres-Staatsanleihen binnen sechs Monaten ungefähr verdoppelt. Besonders markant ist die Abkopplung Italiens.

Lieber mehr Inflation als weniger Euro-Frieden

Würde sich diese Entwicklung fortsetzen, riskierte man im Extremfall die nächste Schuldenkrise. Angesichts dieses existenziellen Risikos für Europa wird die EZB zukünftig eine „konstruktiv ambivalente“ Geldpolitik betreiben.

Was sich sehr akademisch anhört, ist bei näherer Betrachtung profan: Etwas Zinserhöhungspolitik ja, aber nein, bloß nicht überreizen. Mehr Inflation ist eben der Preis für „Ein bisschen Euro-Frieden“.

Übrigens, wenn die EZB keine neue Liquidität mehr in die Finanzmärkte pumpt, klingt das schlimmer als es ist. Das Rekordniveau an Geldversorgung bleibt erhalten, da Erträge aus auslaufenden Zinspapieren immer wieder neu angelegt werden. Hier böte sich auch ein mögliches Werkzeug zur Verhinderung einer Zweiteilung der nationalen Zinssätze. Die EZB könnte auf die fixe Idee kommen, Beträge aus fälligen z.B. deutschen Anleihen südeuropäischen Zinspapieren zugutekommen zu lassen.

Dann reden wir nicht mehr nur von Planwirtschaft, sondern von Zins-Sozialismus. Die EZB lässt Länder auch ohne Reformbemühungen weiter nicht hängen. Das Leistungsprinzip wird wohl auch zukünftig weiter mit Füßen getreten, was für eine Wirtschaftsregion der schleichende Tod ist.    

Unabhängig davon fällt aber auch in den starken Ländern Europas das Stabilitätsbekenntnis immer schwächer aus. So wird in Deutschland propagiert, dass der Sozialstaat in Wort und Tat besser werden müsse. Das ist eine hübsche Umschreibung der Forderung nach mehr Staatswirtschaft. Und wer soll diese Rechnungen wohl bezahlen?

Trotz Zinskosmetik bleibt die EZB der Laufbursche der Politik. Für einen klaren Kurswechsel Richtung geldpolitischer Normalität oder gar Preisstabilität ist kein Platz mehr, höchstens für den Scheinheiligenschein.  

Und wenn sie nicht gestorben ist, dann rettet die EZB noch heute, morgen und übermorgen.