Mit dem Ukraine-Krieg gerät die bekannte geopolitische Ordnung ins Wanken. Unter den energieseitigen Folgen leidet keine Industrieregion mehr als Europa und hier vor allem Deutschland. Zu lange ging man den bequemen, vermeintlich schmerzfreien Weg des geringsten Widerstands. Doch aufgrund der so eingegangenen Energie-Abhängigkeiten werden die Anpassungsmaßnahmen umso heftiger ausfallen müssen und umso mehr wehtun.
Jetzt haben wir also den Salat, leider ohne Sonnenblumenöl. Die Europäische Union will zwar vollmundig russisches Gas bis Jahresende um zwei Drittel reduzieren. Gut gebrüllt Löwe, aber Du hast keine Zähne. Zunächst, ein Embargo gegen russisches Öl und Gas zu verhängen, um Putins Kriegskasse auszutrocknen, wird keine schnelle Wirkung zeigen. Fast alle laufenden Kosten wie Soldatensold, im Inland gebautes Kriegsgerät und heimischer Treibstoff für Panzer und Flugzeuge werden mit eigener Währung bezahlt. Schon daher ist die Rubel-Abwertung für Putin weniger bedrohlich. Und sollte Europa demnächst seine russischen Energierechnungen vertragswidrig in Rubel zahlen müssen und damit seine eigenen Sanktionen konterkarieren, würde der Rubel auch noch zu einer geschätzten Energiewährung.
Sollte der Westen auf den Vertragsbruch mit einem Energie-Embargo reagieren, schlägt das Klumpenrisiko der deutschen Energieabhängigkeit massiv zu. Vielen Unternehmen drohen Energiemangel und Produktionskürzungen. Daneben würde es im nächsten Winter in jeder zweiten Wohnung so kalt wie in Bethlehems Stall. Eines der beliebtesten Weihnachtsgeschenke wäre dann wohl wieder der selbst gestrickte Pullover.
Ausgerechnet ein grüner Wirtschaftsminister fährt nach Katar und bettelt nach fossilem Flüssiggas. Und der neue Lieferant ist nicht nur auf eine finanzielle Gegenleistung aus. Diesem autoritären Regime geht es natürlich auch um Aufwertung.
Zwar hat auch Amerika Flüssiggas. Doch die kapitalistisch denkenden USA werden dieses nicht zu transatlantischen Freundschaftspreisen abgeben. Amerika verhält sich wie Mutter Courage im Dreißigjährigen Krieg: Wer den höchsten Preis zahlt, bekommt die Ware. Übrigens kann Europa die aktuellen Abnehmer nur mit brutalen Preisaufschlägen verdrängen.
Überhaupt käme es erst mittel- bis langfristig zu einer Entlastung. Bis die nötigen Flüssiggas-Terminals in Europa und Deutschland zur Verfügung stehen, vergehen Jahre. Vor allem aber ist die mögliche Liefermenge unsicher und begrenzt. Wer sagt uns denn, dass neue Lieferanten politisch stabil bleiben, verlässlich sind und faire Preise aufrufen? Wäre selbst Amerika unter einem Präsident Trump nicht auch ein unsicherer Kantonist?
Und grundsätzlich, um den europäischen Energiebedarf vollständig zu decken, wäre eine Armada von 4.000 großen Tanklastern nötig. Doch so viele Kapazitäten gibt es gar nicht, weil es auch gar nicht so viele Schiffe gibt. Und die vorhandenen - weltweit schätzungsweise 500 - sind für lange Zeit ausgebucht. Sicherlich werden im Zeitablauf neue gebaut. Aber aufgrund von Rohstoffmangel, langen Fertigungszeiten und hohen Baukosten - die sich erst langfristig bezahlt machen und erheblichen Ertragsrisiken gegenüberstehen - wird es dauern, bis die Nachfrage auch nur annähernd gedeckt ist.
Nicht zuletzt, die transatlantische Überfahrt hin und zurück kann in beide Richtungen jeweils zwei Wochen dauern. D.h., im Durchschnitt kann jeder Tanker nur einmal im Monat an einem europäischen Terminal anlegen.
Ebenso soll die Umweltbelastung nicht unerwähnt bleiben. Je nach Verfahren werden für die Verflüssigung des Gases, die Be- und Entladung und die Wiedervergasung bis zu einem Viertel der Energie des Ursprungsgases benötigt. Zudem setzt Fracking deutlich mehr klimaschädliches Methan frei als andere fossile Energiegewinnung und ist eine Gefahr für das Trinkwasser. Will Berlin diese „Vorkettenemissionen“ ignorieren? Dann widerspräche man massiv der eigenen politischen Ideologie.
Zur Reduzierung der Abhängigkeit und aus Gründen des Klimaschutzes sollen längerfristig alle fossilen Energien ersetzt werden. Klingt super. Doch zunächst sind auch für den Bau von Wärmepumpen Rohstoffe nötig, die aber wohl auf unabsehbare Zeit rar gesät und teuer sind.
Ohnehin haben wir noch das „kleine“ Problem, dass für Digitalisierung, E-Mobilität und auch Wasserstoffgewinnung zukünftig ein Mehrfaches des heutigen Stroms gebraucht wird. Wenn wir diesen aber nicht ausreichend und zu bezahlbaren Preisen anbieten, geht unser Standort ein wie eine nicht gegossene Primel im Hochsommer.
Doch woher kommt der bezahlbare Strom, wenn Öl, Kohle, Gas und Atomstrom pfui bah sind? Photovoltaik und Windkraft kommen wegen zu langen Genehmigungsverfahren und Bürgerprotesten übrigens auch vom Naturschutzbund Deutschland zu schleppend voran.
Alternativ spricht die Politik vom Energieeinsparen: Wer Putin schaden will, spart Energie. Doch schon vor dem Ukraine-Konflikt war es für viele Haushalte Luxus, die Thermostate an den Heizkörper weit nach rechts zu drehen. Und Wirtschaftsschrumpfung scheidet ohnehin aus, weil die sozialen Kosten viel zu hoch wären.
Und jetzt kommt es in der Bundesregierung zum ultimativen Energie-Schwur. Man hat die Wahl zwischen drei unangenehmen Möglichkeiten. Riskiert man einen massiven wirtschaftlichen Einbruch und kalte Hintern im Winter? Bleibt man bei russischen Gasimporten und stützt damit einen Aggressor? Oder kommt die umfassende Rückkehr zur Kohle- und Atomenergie, was bedeutete, dass so mancher nicht mehr in der Opposition sitzende, sondern regierende Klimabewegte nicht nur eine Kröte, sondern ganze Kolonien schlucken muss.
Man sagt, Politik ist die Kunst des Möglichen. Jetzt zeigt sich, ob Berlin auch in der Energie-Politik kunstvoll handelt. Künstlerisch besonders wertvoll wären jetzt besondere Senkungen staatlicher Kostenanteile beim Heizen und Tanken.