Wie ein Naturgesetzt wird es uns seit Jahren verkauft: China wird den Westen insgesamt und selbst die USA früher oder später geopolitisch und wirtschaftlich von der Weltspitze verdrängen. Eine gewisse Führungslosigkeit, sogar „spätrömische Dekadenz“ kann der Westen wahrlich nicht leugnen. In diese offene Flanke dringt Peking immer weiter vor. Aber ist es für China tatsächlich so leicht, sich die Welt-Krone aufzusetzen?
Auf den ersten Blick scheint China im Wettstreit der Systeme die Nase vorn zu haben. Mit seiner staatlich kontrollierten, politischen Einigkeit und wirtschaftlichen Schlagkraft demonstriert das Reich der Mitte allzu gerne seine allumfassende Überlegenheit gegenüber den vermeintlich schlecht funktionierenden westlichen Demokratien. Sicherlich, vom arroganten Glauben der USA, China würde sich problemlos in die amerikanische Weltordnung einfügen, ist nichts übriggeblieben.
Wäre politische Blamage olympische Disziplin, wäre dem Westen die Goldmedaille sicher. So macht sein beschämender Abzug aus Afghanistan bis heute sprachlos.
Allein schon die politische Uneinigkeit Europas ist erschreckend. Weder in Migrations-, Finanz-, Wirtschafts- oder außenpolitischen Fragen herrscht erkennbares Einvernehmen. Um den Laden zusammenzuhalten, werden mittlerweile Geldgeschenke mit Hilfe von Mutter Natur - man nennt sie auch EZB - verteilt und ziemlich alle Stabilitätskriterien geopfert. Und dennoch wird bei der Präsidentenwahl in Frankreich der Euro-Skeptizismus wieder fröhlich grassieren.
Gleichzeitig verabschiedet sich Wirtschafts-Europa und sein lange so strahlender Stern Deutschland immer mehr vom Leistungsprinzip. Statt beherzt Reformen anzugehen und konkret Infrastruktur, Digitalisierung und neue innovative Geschäftsmodelle zügig auf den Weg zu bringen, verliert man sich in politisch korrekter Gefälligkeits-Ökonomie. Und wenn auch noch die Steuern zu hoch und Lohnkosten immer weniger wettbewerbsfähig sind, muss man sich nicht wundern, warum China uns immer mehr die Butter vom Industrie-Brot nimmt. Zudem kontrolliert China die Märkte für Lithium, Kobalt und Nickel, die in der New Economy dringend gebraucht werden. So werden Abhängigkeiten geschaffen, die Europa zum Kotau zwingen. Ohnehin hat sich Peking mittlerweile entschlossen, den größten Teil dieser Rohstoffe nur noch selbst zu nutzen.
Nicht zuletzt entwickelt sich das Thema Energie, konkret Energiesicherheit und -preis in eine prekäre Richtung. Für E-Mobilität, Heizung (z.B. Wärmepumpen) und Digitalisierung werden wir zukünftig deutlich mehr Strom verbrauchen als heute. Wer dann aber gleichzeitig aus Atom, Kohle, Öl und Gas aussteigen will - mit der Diskussion über pro und contra Ostsee-Pipeline wurden die Gaspreise künstlich verteuert - spielt fahrlässig mit den deutschen Standortqualitäten, Wachstum und Wohlstand. Die energieintensive Industrie schaut sich längst nach Alternativen um und wird die Jobs mitnehmen. Übrigens wird die „grüne“ Inflation die kleine Frau bzw. den kleinen Mann viel Kaufkraft kosten. Mal sehen wie lange die Wähler dies aushalten.
Mittlerweile ist der amerikanische Traum, vom Tellerwäscher zum Millionär zu werden, für die große Mehrheit der Amerikaner wirklich nur noch ein Traum. Inzwischen ist der Frust so groß, dass es bei den Zwischenwahlen im November zu einer Mehrheit der Republikaner im Kongress kommen könnte. Mit einer Stärkung ihres „Máximo Líder Donaldo“ könnte das Land so handlungsunfähig werden wie ein Beutetier in der Gewalt eines Tigers. Übrigens, 2022 ist in China das Jahr des Tigers. China glaubt hier einen politischen Vorteil zu haben, denn es muss ja auf demokratische Wahlen keine Rücksicht nehmen. Chinas Staatspräsident kann wie der Papst auf Lebenszeit amtieren.
Wird also eine Vorhersage von Napoleon Bonaparte zur Realität, der argwöhnte, China sei ein schlafender Riese, den man bloß schlafen lassen sollte, weil er bei Erwachen ansonsten die Welt verrücken werde?
Doch bevor wir die letzte Ölung des Westens in Auftrag geben, sollten wir auf China einen zweiten kritischen Blick werfen. Wer oder was hat denn China so stark gemacht? Nein, nicht Mao Zedong, der sein Volk darben ließ. Ja, es war die Wirtschaftsliberalisierung unter Deng Xiaoping, die das Wachstum gedeihen ließ wie guter Mist die Erdbeerpflanzen. Diese Öffnungspolitik haben auch seine Nachfolger und lange Jahre auch der amtierende Staatspräsident Xi Jinping betrieben.
Doch genau diesem stinkt diese Marktwirtschaft jetzt gehörig. Er vollzieht die Rolle rückwärts zur Staatswirtschaft. Aus Angst vor Machtverlust der KP legt er Chinas Unternehmen an die Kette. Die großen High-Tech-Konzerne mit ihrer medialen Reichweite sollen das Volk bloß nicht gegen die KP „aufhetzen“. Denn Peking befürchtet, dass, wenn Menschenmassen erst einmal unterwegs sind, kaum mehr aufzuhalten sind. Also werden Unternehmen unter dem Vorwand, sie stünden dem „allgemeinen Wohlstand“ feindselig gegenüber, harten Beschränkungen unterworfen. Selbst Nachhilfe-Apps werden reglementiert.
Da wundert es nicht, dass Aktienwerte von umgerechnet ca. 1,5 Bio. US-Dollar durch den Kamin gingen. Auf diese sozialistischen Errungenschaften haben Aktionäre keine Lust. Was aber noch viel schlimmer ist: Unkalkulierbare, nach Lust und Laune der KP plötzlich angeordnete Regulierungen und sogar das öffentliche Anprangern bislang erfolgreicher Manager, schüren Ängste. Solch repressive Umstände sind Gift für Fortschritt und Wachstum. Verunsicherte Hühner legen ja auch keine Eier, wenn der Fuchs permanent nach Schlupflöchern im Hühnerstall sucht.
Da macht es Amerika im Vergleich deutlich besser. Zum Mütchen kühlen der Wähler gibt es zwar auch dort Schaumschlägereien, z.B. Anhörungen im Kongress, wo die Vorstandschefs der großen Konzerne kleinlaut Rede und Antwort stehen. Und der ein oder andere IT-Konzern wird sich verschlanken müssen. Doch warum sollte Amerika seine Tech-Werte ganz fest an die Leine nehmen, die mit ihrem Innovationsschub entscheidend zur wirtschaftstechnologischen Führerschaft Amerikas auch gegenüber China beitragen? Das wäre bekloppt. Erst dieser Freigeist der Amerikaner ist der Nährboden, der aus Garagentüftelei Weltkonzerne macht. Im Übrigen sollte man die USA nie unterschätzen. Trotz all ihrer Probleme sind die Amerikaner Stehaufmännchen.
Unabhängig davon hat sich die volkswirtschaftliche Gemengelage in China eingetrübt. Der Immobilienboom braucht den Vergleich mit der Blase in den USA vor 2008 nicht zu scheuen. Evergrande ist nur die Spitze des Eisbergs. Auch die Verschuldung der Chinesen kann mit der von Peter, Paul und Mary in Amerika konkurrieren. Und wie die Notenbanken im Westen ist auch die in China zur Aufrechterhaltung des Finanzfriedens von morgens bis abends gefordert. Ebenso schrumpft die Erwerbsbevölkerung, während die Anzahl der Rentner dramatisch zunimmt. Die Wirtschaftswunderjahre in China sind vorbei.
Amerika steht nicht wie das Römische Reich unmittelbar vor dem Einfall der Germanen. Doch muss der Westen seine Hausaufgaben machen. Zunächst darf sich Amerika nicht aus allem zurückziehen. Das schwächt seine Position in der Welt, denn das Vakuum wird schnell von anderen gefüllt. Gleichzeitig muss die europäische Seite des transatlantischen Bündnisses deutlich mehr Verantwortung übernehmen, um demokratische Werte gegenüber autokratischen Ländern auf Augenhöhe zu verteidigen. Die EU muss also selbst geopolitisch zum Hammer werden. Hier sind wir zwar im Reich der Utopie. Aber Scheitern ist keine Option. Wenn wir nur Amboss bleiben, wird Europa später nur noch in Geschichtsbüchern eine Rolle spielen.
Daneben muss Europa akzeptieren, dass Wirtschaft nicht alles, aber ohne Wirtschaft alles nichts ist. Um morgen noch kraftvoll zubeißen zu können, müssen Politiker dem Wähler manchmal mit Reformen wehtun. Es ist wie bei Zahnschmerzen. Man kann sie mit Tabletten betäuben, aber es wird doch nur dann besser, nachdem gebohrt wurde.
In diesem Zusammenhang fehlen nach zwei Jahren Covid immer noch eindeutige politische Leitplanken. Die praktizierte Kakophonie hingegen verängstigt Konsumenten und Unternehmen und bremst das Wachstum aus.
Nicht zuletzt ist zu hoffen, dass zukünftige Anführer der transatlantischen Welt in Amerika nicht wieder führungslos und egoistisch alles nieder-Trump-eln. Möge dieser Kelch bitte am Westen vorübergehen.