Seit 2009 war billiges und viel Geld der entscheidende Motor der Aktienrallye. Doch befürchten viele Anleger angesichts des hohen Inflationsdrucks die Rückkehr zur geldpolitischen Stabilität. Droht den Börsen 2022 also die Heimsuchung durch eine große Zinswende bzw. massive Liquiditätsverknappung? Bei näherer Betrachtung wird aus dem vermeintlichen Horror- aber schnell eher ein Dokumentarfilm.
Ohne Zweifel, die Preise sprießen derzeit wie Unkraut im Frühjahr. Mittlerweile reagieren immer mehr Notenbanker selbst bei der EZB Inflations-verstimmt. Als Hüter der Preisstabilitätsmoral kann ja kein Geldpolitiker Liederlichkeit an den Tag legen.
Und dennoch sollte man zwischen ehrenwerten Stabilitätsworten und tatsächlichem Handeln sauber trennen: Wie viel Herzblut darf man den Damen und Herren aus den Notenbanken bei der Inflationsbekämpfung wirklich bescheinigen?
Tatsächlich, trotz aktuellem Inflations-Buckel sprechen die Notenbanken immer noch von wiederkehrender Preisstabilität. Sie setzen darauf, dass Preissteigerung ein relativer Wert ist, der sich mutmaßlich im nächsten Jahr lindert. Wenn Rohstoffpreise und Frachtraten auf ihren aktuell hohen Niveaus verharrten, würden sich 2022 im Vorjahresvergleich deutliche Preisberuhigungen zeigen. Dabei kehren Fed, EZB & Co. die Crux dieser Inflationsmessung allerdings unter den Teppich. Der absolute Preisschmerz bleibt dennoch stark.
Doch geht es den Notenbanken vor allem um die Richtung. Wie beim Abnehmen ist der Weg das Ziel: Sinkt die Inflation von ihren aktuellen Höchstständen, halten sie ihre These „Am Ende wird alles gut“ für bestätigt. Die laxe Inflationsbekämpfung von Fed & Co. wird insofern nachträglich geheiligt.
Das gibt den Notenbanken viel Beinfreiheit, um das Thema Preisstabilität auf der To do-Liste nach unten zu setzen und andere Aufgaben zu priorisieren.
Nennenswertes Wirtschaftswachstum ist heutzutage nur noch durch immer höhere Kredite möglich. Bei einer bereits massiven Überschuldung muss also extraordinäre Verschuldung her. Das gilt auch hinsichtlich Corona-bedingter Konjunkturrisiken. So prognostiziert das ifo Institut für Deutschland 2022 nur noch ein Wirtschaftswachstum von 3,7 statt bisher 5,1 Prozent. Bloß nicht die geldpolitischen Stützräder zu früh vom Konjunktur-Fahrrad abnehmen. Bloß keine sozialen Probleme riskieren, die demokratieschädlich wirken. Also bloß nicht zu viel Preisstabilität betreiben, die die Stabilität der Systeme bedroht.
Überhaupt werden Notenbanken immer mehr vor den Karren des grünen Umbaus der Wirtschaft, des Klimaschutzes und der Wehrfähigkeit in einem immer gefährlicheren geostrategischen Haifischbecken gespannt.
Wer soll es denn auch sonst bezahlen? Da man einem nackten Mann nicht in die Tasche greifen kann, wird weltweit eine behütende Geldpolitik betrieben: Anhaltende Kreditzins-Drückung sorgt für Schuldentragfähigkeit und verhindert in Europa die finale Sklerose.
Nicht zuletzt darf man den „Währungshütern“ der EZB getrost Exportstützung unterstellen, indem sie Zinsen weniger attraktiv als in den USA gestalten und so den Euro schwächen. In diesen harten Wirtschaftszeiten ist man doch für jedes Wachstum dankbar.
Mittlerweile hat sich die globale Gesamtverschuldung auf ca. 300 Billionen US-Dollar aufgetürmt. Und ein Ende ist sicher nicht in Sicht. Da diese Schulden ebenso Vermögen sind, haben wir es mit einer Monster-Anlageblase zu tun. Wenn Notenbanken Anleihen aus dem planwirtschaftlichen Käfig wieder in die marktwirtschaftliche Freiheit entließen, würden große Kapitalsammelbecken panisch verkaufen und damit die (Kredit-)Zinsen wie eine Ariane-Rakete aufsteigen lassen. Die nächste Schuldenkrise wäre so sicher wie die gebratene Gans an Weihnachten.
Wenn dann unvermeidlich ebenfalls die Bauzinsen wie mit Helium gefüllte Luftballons aufstiegen, würde die nächste Immobilienkrise jene von 2008 zu einem Kindergeburtstag machen.
Nicht zuletzt, eine klare Inflationsbekämpfung würde über steigende Zinsen ebenso dem Aktienmarkt schweren Schaden zufügen. Aus der Hausse, die die Hausse nährt, würde die Baisse, die den Crash füttert. Und die Aktienkrise würde streuen. Wie 2008 würde die Konsum- und Investorenlaune in sich zusammenfallen.
Vor diesem Hintergrund ist auch 2022 keine wirklich beängstigende Geldpolitik zu erwarten. Selbst wenn die US-Notenbank im Frühjahr keine neuen Anleihekäufe mehr tätigt, werden die Finanzmärkte dennoch weiter ersäuft. Es wird ja netto kein Cent Liquidität entzogen. Und trotz drei Leitzinserhöhungen der Fed im nächsten Jahr, die ohnehin erst nach Beendigung des Tapering-Prozesses stattfinden, rechnet der Rentenmarkt nicht mit dem Szenario einer langanhaltenden geldpolitischen Verschärfung. Denn während die US-Zinsstrukturkurve am kurzen Ende ansteigende Tendenz zeigt, bleibt das lange Ende ziemlich immobil.
Die EZB setzt ohnehin nur auf Make-up. Nach planmäßigem Ende ihres pandemischen Notprogramms im März 2022 ist mit einer Erhöhung konventioneller Aufkäufe zu rechnen. Von Leitzinssteigerungen ist erst Recht keine Rede. Nichts soll den europäischen Seelenfrieden gefährden.
Insgesamt laufen Fed und EZB der Inflation nur halbherzig hinterher. Sie lassen sie aus gutem Grund gewinnen. Denn auch wenn es kein Notenbanker öffentlich zugeben würde, da er sich dann den Mund mit Seife auswaschen müsste: Inflation oberhalb von Schuldzinsen ist nicht nur geduldet, sondern erwünscht, denn sie frisst Verschuldung auf.
Also, auch 2022 sind negative Nach-Inflations-Renditen von amerikanischen oder europäischen Staatspapieren keine ernste Gefahr für Aktien als sachkapitalistische Anlageform. Im Gegenteil, wenn Inflation nicht bekämpft wird, ist sie kein böser Gegner des Aktienmarkts, sondern ein freundlicher Begleiter.
2022 hat die lockere Geldpolitik zwar ihren Gipfel überschritten. Doch die Luft bleibt dünn, denn wir befinden uns immer noch im Hochgebirge.