Der deutsche Aktienmarkt ist erleichtert. Der Kelch eines Linksbündnisses mit (finanz-)wirtschaftlichen sowie außenpolitischen Unsicherheiten geht an ihm vorbei. Doch das allein reicht nicht, um nachhaltig positive Wirkung auf die deutsche Börse zu entfalten. Dazu müsste die vermutliche neue Dreier-Koalition nennenswerte Reformen machen, denn nur so kommt Deutschland nach vorne und werden seine Talente gefördert. Ansonsten bleibt die Wahl börsenirrelevant.
Auf Große Koalition hat niemand mehr Lust. Die neue Bundesregierung wird wohl ein Dreier-Bündnis aus SPD, FDP und Grünen sein. Nach der Wahlpleite der Union wäre zwar auch Jamaika rechtlich möglich, aber „polit-moralisch“ nur schwer zu vermitteln. Sicherlich wäre der Börse dieses karibische Bündnis im Zweifel lieber, weil es zumindest gemäß Papierform als wirtschaftsfreundlicher gilt. Diese Variante kommt aber erst wieder ins Spiel, wenn sich die FDP mit den anderen Parteien nicht „grün“ ist. Um dann die Hürden für Schwarz-Grün-Gelb zu senken, ist allerdings mit einem anderen Unions-Kanzler zu rechnen.
Die SPD wird auf die Funktionsfähigkeit der Ampel genau achten, da sie auch machtstrategisch wichtig ist: Ähnlich wie das Überraschungs-Ei erfüllt sie nämlich gleich drei Wünsche auf einmal: Soziales, Ökologisches und Ökonomisches. Das macht es der Union schwerer, zukünftig eine politische Alternative zu sein.
Mutmaßlich das erste Mal seit 1953 wird Deutschland demnächst von einer Dreier-Koalition regiert. Allein schon Grüne und Liberale angesichts ihrer diametralen Unterschiede in wirtschafts- und finanzwirtschaftlichen Fragen unter einen Hut zu bringen, scheint schwieriger zu sein als Veganer und Steakliebhaber an einen Tisch zu bringen. Doch da beide regieren wollen - die einen, weil sie lang sehnsüchtig darauf gewartet haben und die anderen, weil sie sich nicht noch einmal dem Regieren verweigern können - wird sich am Ende eine Zweckehe einstellen. Und die sind bekanntlich robuster als so manche Liebesbeziehung. Ja, beide Seiten sind bereits dabei, sich gegenseitig große Teile der Beute einer Ampel-Koalition zu sichern. Das gut inszenierte Selfie der Marke „We are family“ unterstreicht deutlich, dass sie der SPD nicht sang- und klanglos das politische Feld überlassen werden. Daher halten auch beide die Union im Spiel. Tatsächlich begreift Olaf Scholz bereits, dass er nicht als strenges, sondern nur als fürsorgliches Familienoberhaupt auftreten kann.
Ein Zuckerschlecken wird das alles dennoch nicht. Großzügige Zugeständnisse auf allen Seiten sind das Gebot der politischen Stunde. Sich nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen und damit die deutschen Standortprobleme in schlechtester Kontinuität fortzuschreiben, darf niemals eine Option sein. Große Würfe müss(t)en her.
Die tiefsten Gräben zwischen Grün und Gelb gibt es in der Finanz-, Steuer- und Schuldenpolitik. Sie können aber zugeschüttet werden, indem man den von allen gewünschten Zweck verfolgt, aber die Mittel dazu pragmatisch handhabt. Statt also Klimaschutz und Digitalisierung über Verbote zu erreichen bzw. über höhere Einkommens- und Unternehmens- bzw. die Wiedereinführung der Vermögenssteuern zu finanzieren, könnte man auch auf hohe Abschreibungen auf private Investitionen setzen. So könnte sich die Öko-Partei ihren Wunschtraum erfüllen und die FDP muss ihre heilige Kuh nicht schlachten. Übrigens kann auch Marktwirtschaft positiven Verbotscharakter entfalten. Die CO2-Bepreisung über Zertifikate ist vielleicht das allerstärkste Verbot: Ohne Freibrief kein Ausstoß. Das gibt der „Schmutzindustrie“ Anreize, sich in die umweltgerechte Richtung zu bewegen. So bestünde auch beim Kohleausstieg zwischen dem jetzigen Beschluss im Jahr 2038 und dem von den Grünen gewünschten Jahr 2030 noch Spielraum. Politik ist immer die Kunst des Möglichen.
Und sollte es zu einer höheren CO2-Bepreisung bei Verbrauchern kommen, könnten die Liberalen dem Wunsch der Sozialdemokraten nach einem sozialen Ausgleich in Form eines höheren Mindestlohns entgegenkommen, wenn z.B. auch höhere Hinzuverdienstgrenzen oberhalb von 450 Euro möglich sind.
Selbst höhere Schulden könnten durchgehen, wenn sie hauptsächlich den Zukunftsthemen Umwelt und technologischem Umbau der Volkswirtschaft zugutekommen. Dabei wäre auch die Errichtung eines Staatsfonds vorstellbar. Dieser könnte dann die großartigen, wenn auch kleineren deutschen Klima- und Technologieunternehmen düngen und wässern, die in Teilsegmenten vielfach sogar weltführend sind.
Dieser Staatsfonds - jetzt bin ich mal sehr optimistisch - könnte sogar Grundlage einer neuen deutschen Anlagepolitik abseits der angeschlagenen gesetzlichen oder der unbeliebten Riester-Rente sein. Die FDP liebäugelt ohnehin mit einer Aktienrente. Derartige Altersvorsorgestrukturen sind für die SPD sicher schwere Kost. Aber das, was für schwedische Genossen recht ist, sollte deutschen Genossen billig sein. Die Grünen haben sowieso nichts gegen eine kapitalgedeckte Vorsorge einzuwenden.
Ein No Go für die FDP wäre ebenso die von der SPD und den Grünen diskutierte Vergemeinschaftung nationaler Schulden und sogar der nationalen Sozialversicherungssysteme. Bei der Verhinderung einer Romanischen Schuldenunion könnte eine freizügige EZB den gordischen Knoten zerschlagen: Mit weiteren Anleihekäufen gäbe es ein alternatives Finanzierungskonzept. An die jungfräuliche Stabilität der eurozonalen Gründerjahre glaubt doch wirklich niemand mehr.
Und jetzt noch die Wohnungspolitik. Dem Wunsch der Grünen nach Mietregulierung und einem bundesweiten Mietendeckel könnten die Liberalen mit verstärktem sozialen Wohnungsbau begegnen. Warum sollte die SPD dem widersprechen? Realpolitik ist wahre Politik.
Insgesamt kann die Ampel gelingen. Man könnte sogar große standortreformerische und wirtschaftsentfesselnde Dinge tun, wenn man sture Ideologien über Bord wirft. Neue Standbeine für zukünftigen deutschen Wohlstand würden aufgebaut, die nicht zuletzt auch Alternativen für Jobs in der Old Economy bieten. Klingt theoretisch großartig, nicht wahr?
Und wenn daraus praktisch nichts wird? Dann wird die neue Regierung die deutsche Börse nicht mit einer „Sonderkonjunktur“ befruchten. Immerhin ist auch keine Beeinträchtigung zu erwarten, denn schon bisher wurde sie von Berliner Politik nicht verwöhnt.
Dann gilt weiter die alte chinesische Weisheit „Das große Wasser nimmt das kleine Wasser“. Notenbanken, Geopolitik und Weltkonjunktur sind dann wie bisher bestimmend für die deutsche Wirtschaft und die Börse.
Zumindest spricht einiges dafür, dass wir noch vor Weihnachten eine neue Regierung haben. Angela Merkel kann dann eine ausgedehnte Weihnachtspause machen, ohne eine weitere Neujahrsansprache ausarbeiten zu müssen.