Corona und US-Präsidentenwahl haben das Thema Brexit lange verdrängt. Da aber die Zeit für ein „transärmelkanales“ Handelsabkommen rasant abläuft und Boris Johnson im Poker mit der EU alles auf eine Karte setzt, ist es als No Deal-Variante wieder da. Droht Ende 2020 tatsächlich eine schmutzige Trennung Großbritanniens von Europa mit allen Scheidungsfolgen für hüben und drüben?
Dabei scheint eine „Liebes-Scheidung“ gar nicht so schwer zu sein: Die EU erlaubt Großbritannien, seine Waren ohne Zölle und Mengenbegrenzung weiter in den Binnenmarkt zu exportieren. Als Gegenleistung hält die Insel an EU-konformen Umwelt- und Sozialstandards fest und verzichtet auf wettbewerbsverzerrende Staatshilfen.
Leider findet man an diesem Fair Play in Number 10 Downing Street ebenso wenig Gefallen wie an einem vernünftigen Haarschnitt. Hier sind Ähnlichkeiten mit US-Präsident Trump unverkennbar. Auch Johnson hat ein unbeirrbares Sendungsbewusstsein mit Absolutheitsanspruch. Im Ringen mit der EU um seinen Best Brexit-Deal sieht er sich als Dreifaltigkeitsnachfolger der ausdauernden Queen Victoria, des unbändigen Winston Churchill und der sturen Margaret Thatcher: United Kingdom 12 points, EU Zero.
Im Rosenkrieg mit Europa scheut er selbst vor Änderungen am Brexit-Abkommen, insbesondere an den heiklen Nordirland-Passagen nicht zurück. Diesem hatte Johnson zwar zugestimmt, um den EU-Austritt rechtlich zu ermöglichen. Doch was interessiert ihn sein Geschwätz von gestern. Völkerrechtsbruch und Vertragsuntreue gehören für Johnson wohl zur neuen feinen englischen Art.
Und Johnson fühlt sich so kampfstark wie das britische Wappentier, der Löwe. Im Unterhaus hat er eine Mehrheit wie die CSU in ihren besten Zeiten. Die Labour-Opposition ist keine Alternative. Und dann gibt es da noch die britische Volksseele. Für die Souveränität des Königreiches gegenüber der republikanischen Knechtschaft der EU, die vermeintlich von Frankreich und Deutschland dominiert wird, will man alles tun, auch wenn es völlig absurd wie bei Monty Python oder Mr. Bean ist und sogar schmerzt. So wird erbittert um Fangquoten in königlichen Gewässern verhandelt, obwohl die Fischerei nur noch einen sehr kleinen Anteil an der britischen Wirtschaftsleistung hat. Aber dass es dem Durchschnitts-Briten im Vergleich zum -Europäer nach einem No Deal-Brexit noch schlechter als heute schon gehen wird, spielt keine Rolle. Hauptsache den Pferden und Hunden der Queen geht es gut.
Vor diesem machtvollen Hintergrund will Johnson die EU einschüchtern. Immerhin ist Brüssel seit 2016 in allen Brexit-Verhandlungen immer kulant aufgetreten. Da ist doch noch mehr drin, ein besonderer Special Deal. Und so setzt er alles auf Rot: Wenn bis 15. Oktober kein ihm genehmer Deal steht, kommt eben der No Deal-Brexit. Und Schuld daran ist dann nur die EU.
Johnson behauptet vehement, dass Großbritanniens Zukunft auch mit einem Plan B, also ohne Deal mit der EU, großartig sein wird. Damit zeigt er nicht nur Ähnlichkeiten mit Trump, sondern auch mit Pinocchio. Und so spricht man in der britischen Regierung auch nicht von No Deal, sondern viel freundlicher von „Australischer Lösung“. Denn Down Under habe doch auch kein Handelsabkommen mit der EU. Und denen gehe es doch auch gut.
Doch geben wir der Realität eine Chance. Wenn sich das Königreich neuen Ufern, sprich neuen Handelspartnern zuwendet, werden diese die Notlage des Landes ausnutzen. Käme es sogar zu einer Abspaltung Schottlands, wäre ein dann Little Britain ganz leichte Beute. Nebenbei, trotz Special Relationship mit UK ist sich auch Amerika handelspolitisch selbst der Nächste.
Dann zur Exportstimulierung auf die Pfund-Abwertung zu setzen, ist nur vordergründig sinnvoll. Die Industrie hat wenig vom währungsseitigen Wettbewerbsvorteil, wenn der Anteil der importierten Vorprodukte hoch ist.
Überhaupt, sollte das Pfund zu einer Schwachwährung verkommen und heftig wie der Union Jack an der englischen Nordseeküste hin und her flattern, müssten britische Schuldner zur Kompensation von Währungsrisiken höhere Zinsrisikoaufschlägen zahlen. Setzt die Bank of England zur Verbesserung der Kreditbedingungen dann auf negative Leitzinsen und ungebremste Anleihekäufe, wären weitere Währungsunsicherheiten so sicher wie der Five o´ Clock Tea. Und zu allem Übel kommt auch noch ordentlich importierte Inflation hinzu. Genau dieses Schicksal erleidet zurzeit die Türkei mit ihrer Lira.
Und grundsätzlich, welchen Standortvorteil hat eine exportgünstige Währung noch, wenn er über hohe Import- und Exportzölle aufgefressen wird. Und genau diese poppen ab 1. Januar auf wie Mais in der heißen Pfanne.
Standortqualitäten lassen sich alternativ kaum über großzügige Steuersenkungen gewinnen. Ja, Irland zieht mit Mini-Steuersätzen multinationale Konzerne an wie Licht die Motten. Doch was nutzen diese, wenn der Zugang zum großen EU-Binnenmarkt mit Zollbürokratie, Staus an den Grenzen, Unterbrechungen von Lieferketten und hohen Lagerkosten bezahlt wird.
Ebenso mögen massive Deregulierungen z.B. in der Finanzindustrie zunächst ein Standortvorteil sein. Doch selbst amerikanische Banken, die London seit Jahrzehnten lieben, gehen aktuell fremd und investieren lieber in Kontinentaleuropa. Auf rechtliche Grauzonen hat niemand Lust.
Nicht zuletzt ist für Konzerne, aber auch Startups die Arbeitnehmerfreizügigkeit wichtig, bei der sich Johnson zugeknöpft wie im kältesten Winter zeigt. Dabei sind auch für Großbritannien ausländische Fachkräfte unverzichtbar. In Krankenhäusern und Fabrikhallen werden die Bio-Briten immer rarer: Jeder achte BMW-Mitarbeiter in Großbritannien ist EU-Bürger, kein Brite.
Insgesamt betrachtet ist für ausländische Unternehmen der Schritt auf die Insel zu riskant. Und für Fish and Chips und zerkochtes Gemüse kommt niemand. Ohne Deal werden sogar viele britische Firmen Good Bye sagen.
Eigentlich würde kein verantwortlicher Politiker eine No Deal-Brexit-Krise riskieren. Damit fährt man auf der falschen Seite, auf der linken Spur. Es sei denn der Nachname fängt mit J an. Hauptsache, er hat der EU nicht nachgegeben. Und wenn die Wirtschaft leidet, schiebt er es einfach auf Corona.
Es ist völlig richtig, dass sich der europäische Stier von Johnson nicht kastrieren lässt. Wenn Erpressungen zu einem besseren Deal führten, könnten schlafende Hunde in anderen Ländern geweckt werden: Sich vieler Pflichten der EU entledigen und dennoch möglichst alle Rechte behalten.
Dafür zahlt aber auch die EU einen Wirtschafts-Preis. So ist Großbritannien einer der größten Exportmärkte für Deutschland. Die deutlich größeren Wirtschafts-Schmerzen wird aber das Königreich aushalten müssen.
Häme und Brüsseler Selbstgefälligkeit sind aber unangebracht. Der größte Feind Europas ist sicher nicht das Vereinigte Königreich, es sind die Chinesen und Amerikaner, die unseren Wohlstand nachhaltig bedrohen. Um im Haifischbecken der Wettbewerbsfähigkeit zu überleben, muss die EU an die eigene Komfortzone ran. Über-Bürokratie, Verteilen von Geschenken ohne Gegenleistung, Technologiefeindlichkeit, das Vergraulen von Investoren, immer mehr staatswirtschaftliches Gesundbeten und ein nur lockerer Zusammenhalt wie bei Aasgeiern müssen wie Unkraut ausgemerzt werden.
Die europäische Unart, sich um des lieben Friedens willen immer auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu verständigen und zur Erhaltung der innereuropäischen Freundschaft Konflikte mit großem diplomatischem Geschick zu umschiffen und auch noch stolz darauf zu sein, ist ein schleichendes wirtschaftliches Gift, dass früher oder später auch zum geopolitischen Tod führt.
Den Briten wünsche ich einstweilen viel Spaß mit ihrer Insel-Isolation und Empire-Romantik. Das macht sie zwar nicht satt, aber offensichtlich glücklich.