Der letzte EU-Gipfel erinnert mich sehr an William Shakespeare und sein Stück „Der Widerspenstigen Zähmung“: Nach viel Streit, Blut, Schweiß und Tränen wird die EU zum ersten Mal in eigenem Namen Schulden aufnehmen und Geld in bislang unvorstellbarem Umfang an von der Corona-Krise besonders betroffene EU-Länder verschenken. Die europäischen Finanzmärkte und der Euro atmen durch, denn der Kelch der politischen Euro-Sklerose ist vorübergegangen. Aber ist dieser Deal wirklich der historisch große Wurf, das neue Europa, von dem die Politiker jetzt schwärmen?
Entschuldigung, aber ich erlaube mir, etwas Wasser in den süßen Brüsseler EU-Wein zu gießen.
In vielen Ländern ist die Akzeptanz des EU-Gemeinschaftsprojekts derart in Misskredit geraten, dass sich selbst Deutschland gezwungen sah, seine Stabilitätsseele zu verkaufen. Geldgeschenke sind ein klarer Verstoß gegen die Stabilitätskriterien. Man mag diesen Sündenfall jetzt Realpolitik nennen. Nachdem der deutschen Seite ihr bisheriger stabilitätspolitischer Blutsbruder Großbritannien abhandengekommen ist, werden die schuldengläubigen EU-Länder immer mehr. Berlin tröstet sich damit, dass es mit diesem „alternativlosen“ Deal zwei Fliegen mit einer Klatsche schlägt: Zum einen erhalten Geschenke die Freundschaft, konkret die von Italien zur EU. Eine neue Euro-Krise ist vom Tisch. Jetzt sind also schon nicht zurückzuzahlende Zuwendungen als Kitt nötig, um die EU zusammenzuhalten. Zum anderen versetzt Deutschland den europäischen Süden mit Geldgeschenken in die Lage, weiter deutsche Maschinen und Autos zu kaufen.
Insgesamt werden die europäischen Stabilitätsregeln immer mehr zur aussterbenden Spezies. Zur Erinnerung: Die Deutschen waren nur bereit, ihre geliebte D-Mark aufzugeben, wenn der Euro genauso stabil ist. Frankreich ist am Ziel. Unser Nachbarland hat doch schon immer von Finanzsolidität so viel gehalten wie von verbrannter Crème brûlée. Und dieser jetzt praktizierte EU-Länderfinanzausgleich wird keine einmalige Veranstaltung bleiben. Die Transferunion wird zum Evergreen. Die nächste Wirtschaftskrise kommt bestimmt und an Geschenke gewöhnt man sich schnell.
Grundsätzlich ist die europäische Idee eine großartige. Immerhin haben wir uns nach Jahrhunderten der kriegerischen Auseinandersetzungen endlich zu einer Wertegemeinschaft zusammengerauft. Daneben müssen wir uns gegen Feinde von außen wehren. Dazu gehört mittlerweile leider auch Amerika unter Trump. Es war einmal die transatlantische Liebesbeziehung, es war einmal die DAF, die deutsch-amerikanische Freundschaft.
Überhaupt, den finanzstarken Ländern der EU kann der wirtschaftliche Zusammenbruch des Südens nicht egal sein. Viele Italiener, Franzosen und Spanier fühlen sich bereits als Europas Verlierer. Erhalten sie vom wohlhabenden Euro-Norden in der Corona-Krise keine Hilfe, haben EU-feindliche Populisten leichtes Spiel. Je einflussreicher sie werden, umso gefährdeter sind die Segnungen des gemeinsamen Binnenmarkts. Übrigens sollte man eine einmal in Gang gesetzte politische Eigendynamik nie unterschätzen. Am Beispiel Großbritannien sieht man, dass es durchaus zu einem EU-Austritt kommen kann, selbst wenn dieser jeder geostrategischen und ökonomischen Vernunft widerspricht. Der ehemalige britische Premier David Cameron hatte doch nie wirklich vor, sein Land aus der EU zu führen.
Nicht zuletzt beeinträchtigen wirtschaftlich schwache Absatzmärkte im Süden auch die Exportnationen Deutschland und die Niederlande massiv.
Apropos Niederlande, seinem Ministerpräsidenten Mark Rutte und den „sparsamen vier“ im Allgemeinen ist ein gewisses Maß an Profilierungssucht sicher nicht abzusprechen. Ihre Rolle als stabilitätsgerechte Davids gegen die stabilitätslosen Goliaths kommt bei der jeweiligen heimischen Bevölkerung gut an.
Dennoch sind ihre Einwände ernst zu nehmen. Keine Leistung ohne Gegenleistung. Geldgeschenke der Geberländer stehen den Nehmerländern nicht als Taschengeld zur freien Verfügung. Sie müssen für konsequente Strukturreformen eingesetzt werden, damit sich z.B. in Italien und Spanien nachhaltige Wirtschaftsperspektiven auch am Arbeitsmarkt entwickeln. Wird das passieren? Ich habe Zweifel. Bereits vor Corona wurden die dramatischen Zinserleichterungen und die Geld-Geschenke der EZB nicht beherzt für die Kernsanierung der teilweise maroden Infrastruktur eingesetzt. Tatsächlich haben viele EU-Staaten regelrecht Angst vor Reformen, die den Bürgern über schmerzliche Einschnitte in das Arbeitsrecht und bei der Rentenversicherung so manche Annehmlichkeit wegnimmt. Wer will schon abgewählt werden?
Zwar soll eine „Notbremse“ installiert werden, die sicherstellt, dass die Staaten die Hilfen aus dem Wiederaufbaufonds zielgerichtet für Standortverbesserungen verwenden. Theoretisch klingt das gut. Aber wie sieht es in der Praxis aus? Bei Fehlverhalten haben die Geberländer keine wirklichen Sanktionsmöglichkeiten. Ist es nicht eher umgekehrt? Die EU-Kette kann nur so stark sein wie ihr schwächstes Glied. Ein großes systemrelevantes EU-Land kann den Geberländern mit erneuter Euro-Renitenz drohen, was wieder zu einer europäischen Krise und Schwäche der EU führte. Zur Besänftigung des EU-Unmuts hat man sich doch jetzt erst für die Geldgeschenke entschieden.
Einstweilen hat Europa Zeit gewonnen. Vorerst ist die EU-Kuh vom Eis. Geschenke sind nicht gerade dazu geeignet, die eigene Komfortzone zu verlassen und dem Leistungsprinzip zu folgen. Längerfristig hat nur ein koordiniert arbeitendes, sich an Stabilitätsregeln haltendes und reformfähiges Europa eine Chance, im weltweit tobenden geostrategischen und wirtschaftlich-technologischen Wettbewerb zu bestehen. Ansonsten wird die EU-Kuh irgendwann doch noch im Eis einbrechen.
Die drei Aasgeier aus Amerika, China und Russland haben kein Interesse an einem starken Europa aus 27 Harmonisten, die alle an einem Strang ziehen. Sie bevorzugen den europäischen Flickenteppich von sich streitenden Ländern. Denn dann ist Europa willfährig, demütig und abhängig. Man kann es genüsslich am Nasenring durch die Welt-Manege führen. Die Drei werden sicher nicht aufhören, innereuropäische Konflikte weiter mit Hochgenuss zu schüren.
"Alle Menschen werden Brüder“ heißt es in der Ode an die Freude von Beethoven, die die Hymne der EU ist. Ist es nicht höchste Zeit, sich in der EU brüderlich und schwesterlich für das erfolgreiche geostrategische und wirtschaftliche Gedeihen Europas einzusetzen?