Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus. An der Börse treibt eine andere Mai-Weisheit ihr „Unwesen“: Vor den schwachen Börsenmonaten im Sommer sollten Anleger ihre Aktien unbedingt verkaufen. In dieser Zeit fehlten ohnehin die marktbewegenden Impulse, bestände aber das Risiko, dass angesichts saisonal schwacher Umsätze schon kleinste negative Nachrichten zu Lasten der Aktienkurse aufgebauscht werden. Erst ab September, wenn alle Börsianer aus dem Urlaub zurückgekehrt sind, sollten erneut Aktienbestände für die Jahresendrallye aufgebaut werden.
In der guten alten Börsenzeit, als Kapitalmärkte noch anders tickten, Handelszeiten eng begrenzt waren und die Politik sich kaum ins Börsengeschehen einmischte, hatte diese Börsenregel durchaus ihre Berechtigung.
Heute jedoch handelt man zeitlich fast unbegrenzt und von überall. Via Smartphones ist es selbst während des Urlaubs auf dem Ballermann möglich, z.B. Siemens-Aktien zu kaufen. Innovative Hedge-Fonds haben sowieso keine Anlagestrategie, die sich an Saisonmustern orientiert. Ihre Strategie ist Geld verdienen, egal wie und wann.
Daneben hat sich die Anzahl der Akteure auf dem Börsenspielfeld erhöht. Früher gab es nur Amerika und Europa mit ein bisschen Einfluss aus Japan. Mittlerweile aber spielen Schwellenländer wie China aktiv mit. Sie sind weltwirtschafts- und -finanzpolitisch systemrelevant. Sie machen ihr Ding und stören sich wenig an westlichen Saisonalitätsregeln. Heutzutage passiert irgendwo auf der Welt fast jeden Tag irgendetwas, was aufgrund der Dominosteine der Globalisierung irgendwie alle großen Börsen betrifft.
Ohnehin hat die Politik längst die Rolle des reinen Schiedsrichters an den Finanzmärkten aufgegeben. Sie ist zum eigentlichen Spielmacher geworden, von dem Wohl und Wehe der Aktienmärkte massiv abhängen. Egal, ob Brexit, Handelskrieg, Eurosklerose oder die Rettung von Euro-Ländern, Politik bietet großes Börsen-Kino an 365 Tagen. Politik ist wie New York, sie schläft nie, auch nicht in der heißen Jahreszeit. Und so hat ausgerechnet im Sommerloch 2015 die Lösung der Griechenland-Krise dem DAX ein Plus von 20 Prozent beschert.
Auch mit der vornehmen Zurückhaltung der Geld-Politik war es spätestens nach dem Platzen der Immobilienblase vorbei. Ab 2008 griffen die Staaten mit massiver Neuverschuldung ein, um das weltweite Wirtschaftssystem vor dem Kollaps zu bewahren. Seitdem sind die Notenbanken gezwungen, mit beispiellosen Zinssenkungen und Geldschwemmen das ansonsten unvermeidbare weltweite Schulden-Armageddon zu verhindern. Es wird nicht nur saisonal, sondern ganzjährig gerettet.
Tatsächlich scheinen in diesem Jahr die starken Kursgewinne seit Ende 2018 förmlich nach Anwendung dieser Börsenregel zu schreien. Eine weltweite Konjunkturflaute und schlechte Unternehmensdaten sind doch keine Mücken, sondern wilde Elefanten, die die bisherige Hausse des Frühjahrs im heißen Sommer akut bedrohen, oder?
Doch dass die aktuelle Berichtsaison für das I. Quartal in puncto Vergangenheitsbewältigung wenig rühmlich ist, muss die Mai-Börsenregel nicht bewahrheiten. Da laut Umfragen das Vertrauen in die Lösung der (handels-)politischen Konflikte wächst, werden die Ausblicke zunehmend aufgehellt ausfallen. U.a. ist davon auszugehen, dass die dramatischen Konjunkturstützungsaktionen in China die Weltkonjunktur im zweiten Halbjahr wieder anschieben.
Und so wie bislang eine schlechte Konjunkturprognose und eine Gewinnwarnung die nächste jagte, funktioniert das Spiel auch umgekehrt. Trotz noch schwieriger Konjunkturlage stärkt jede Erwartung auf -verbesserung die Aussichten auf einen sonnigen Aktien-Sommer.
Bleibt - wie geldpolitisch zu erwarten - Zinssparen ein Synonym für geplante Vermögensvernichtung, haben wir es mit einem Anlagenotstand zu tun, der nicht nur saisonal begrenzt, sondern auch im vermeintlichen Sommerloch Befriedigung am Aktienmarkt sucht.
Welcher Vermögensverwalter will schon auf einen schönen Börsensommer verzichten? Wer weiß, ob man diesen entgangenen Gewinn später im Jahr noch wettmachen kann. Eventuell ist die Gesamtjahresperformance so schlecht, dass die Kunden zur Konkurrenz abwandern.
Unterzieht man die Börsenweisheit einer historischen Überprüfung für die letzten 30 Jahre, hat sie bezogen auf den DAX 17 Mal funktioniert und 13 Mal versagt. Damit ist sie nicht viel überzeugender als eine bekannte Wetterweisheit: Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter, oder es bleibt, wie es ist.
Insgesamt macht es für den Privatanleger keinen Sinn, auf diesen saisonalen Börsenkalauer zu setzen. Die saisonal systematisch richtigen Ein- und Ausstiegszeitpunkte gibt es offensichtlich nicht. Ansonsten gäbe es an der Börse nur noch Millionäre. Dem ist aber nicht so. Kein Anleger sollte also seine langfristige Aktienstrategie durch kalenderabhängiges Verkaufen und Kaufen gefährden.
Selbst wenn sich die saisonale Börsenregel bewahrheiten würde, wäre sie kein Grund, den Aktienmarkt zu verlassen, im Gegenteil. Gerade sinkende Kurse sind doch das attraktive Umfeld für regelmäßige Aktiensparpläne als beste Form der Altersvorsorge. Denn wenn es ab Herbst wieder aufwärtsginge, hätte man die wirkliche Börsenweisheit „Im Einkauf liegt der Gewinn“ optimal befolgt.
Was bleibt also von der Börsentheorie praktisch übrig? Sie ist so etwas wie eine Bauernregel, die allerdings durch den Klimawandel stark verwässert wurde.