Grundsätzlich bin ich mir darüber im Klaren, dass die tatsächliche Preissteigerung deutlich höher liegt als die offizielle. Die amtliche hat die Gnade eines Warenkorbs - der ja jeder Preissteigerungsmessung zugrunde liegt - der unrealistisch ist. Mit frisierten Warenkörben wird übrigens in jedem Industrie- und Schwellenland die hässliche Fratze der Inflation aufgehübscht: Überall werden deflationäre Güter und Dienstleistungen überbetont und preistreibende vernachlässigt. Wo finden denn die steigenden Prämien für Versicherungen oder Mietpreiserhöhungen, aber auch staatliche und kommunale Dienstleistungen ihren Niederschlag? Sie werden statistisch glatt gebügelt. Wenn ich mir allein die Entwicklung der Grundsteuer ansehe, weiß ich, dass staatliche Stellen vom „Stamme Nimm“ sind.
Technisch ist es zwar nicht möglich, eine individuelle Inflationsberechnung für Frau Müller oder Herrn Meier zu erstellen. Aber dies sollte kein willkommenes Alibi für allgemeine Beschönigungen sein, mit denen man die offizielle Inflation auf den kleinsten gemeinsamen Nenner bringt.
Doch selbst die offizielle Inflation müsste deutlich höher liegen. Nach der weltweit beispiellosen Dauerbewässerung mit billig und viel Zentralbankgeld und dem Dünger einer hemmungslosen staatlichen und privaten Verschuldung sollten die Volkswirtschaften und deren Inflation eigentlich gedeihen wie Unkraut im Hauptvegetationsmonat Mai. Gerade in Trump‘s Own Country müssten auch angesichts einer angeblich vorhandenen Vollbeschäftigung blühende Landschaften anzutreffen sein, die jeder Großgärtnerei Konkurrenz machten.
Weniger florierend ist dagegen die Realität. Amerika wächst im historischen Vergleich nur unterdurchschnittlich und seine Inflation ist vergleichsweise homöopathisch. Gemäß gängigen Wirtschaftstheorien müssten wir sogar galoppierende Preisbeschleunigungen haben. Doch diese klassischen Weisheiten aus den wissenschaftlichen Elfenbeintürmen passen in heutige Konjunkturzeiten wie Abakusse in Großrechenzentren.
Früher war Inflation vor allem eine nationale Angelegenheit. Doch heute hat die Inflationsgleichung viele internationale und technische Nebenbedingungen. In unseren modernen Zeiten produzieren Unternehmen rund um den Globus. Kapital ist heute so beweglich wie Wackelpudding. Dagegen ist der Faktor Arbeit fest wie Grießpudding. Das zwingt die Arbeitnehmer und die früher so mächtigen „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will“-Gewerkschaften zur muskelerschlafften Lohndemut. Die Interessenlage hat sich verändert: Es geht um Joberhalt, nicht mehr Gehalt.
Und da kommt auch noch die Digitalisierung dazu: Beim Rennen zwischen Mensch und Maschine kommt die Maschine immer besser in Form. Die ist gedopt: Roboter wollen keinen Urlaub, verlangen keine Lohnerhöhung, werden nie krank, streiken nicht, arbeiten 24 Stunden an sieben Tagen die Woche, reparieren sich selbst und sind auch noch billiger. Noch Fragen? Neue Technologien jetzt zu dämonisieren, wäre der industrielle Untergang. In unserer globalen, brutal konkurrenzstarken Industriewelt heißt es nicht „Wünsch Dir was“ sondern „So ist es“.
Vor diesem technischen Hintergrund halte ich übrigens auch den angeblich Millionen-fachen Fachkräftemangel in Deutschland für wenig plausibel. Alles, was in der Industrieproduktion standardisiert abläuft - und das wird immer mehr - ist auch digitalisierungsfähig. Leider ist das Handwerk kein alternativer Schwamm, der 1 zu 1 aufnahmefähig ist.
Und wo sollen jetzt die früheren Lohn-Preis-Spiralen, das gegenseitige Hochschaukeln von Löhnen und Inflation, angesichts von Globalisierung und Digitalisierung ihr Drehmoment herbekommen?
Von Rohstoffen sind ebenfalls keine Preisschübe zu befürchten, die wie nach den zwei Ölkrisen 1973 und 1979 zu Inflationsschüben bis sieben Prozent führten und übrigens durch tarifliche Lohnerhöhungen ausgeglichen wurden. Das waren die Ölpreis-Lohn-Inflations-Spiralen. Kämen heutzutage die Opec-Länder auf die Idee, Förderkürzungen zu beschließen, hätten sie an steigenden Preisen nur vorübergehend Freude. Denn mit zunehmend sinkender Gewinnschwelle würde in den USA „gefrackt“, was die Pumpanlagen hergeben. Diese wirtschaftliche Belebung im arbeitsplatzschwachen Mittleren Westen würde Donald Trump sicher mit launigen Tweets als seine Wirtschaftserfolge feiern. Am Ende wäre der Ölpreis wegen Überversorgung wieder unten und die Opec hätte auch noch Marktanteile an die USA verloren. Früher war die Opec ein Hengst, heute ein Wallach.
Sogar die Stabilitätswächter der Deutschen Bundesbank formulieren mittlerweile: „Die Anzeichen für einen nachhaltigen Umschwung bei der Inflation sind bislang verhalten“. Für mich heißt das: Wo kein Inflations-Richter, da kein Zins-Henker!
Abseits von verbal artikulierten Inflations-Phantomschmerzen ist selbst die Fed immer weniger von einer ausgiebigen Zinsbehandlung überzeugt. Sie zeigt sich von den amerikanischen Preisdaten regelrecht „enttäuscht“.
Abzulesen ist dies nicht zuletzt an den am US-Finanzmarkt gehandelten Wahrscheinlichkeiten von Zinserhöhungen zu künftigen Sitzungsterminen der US-Notenbank. Demnach wird erst im Frühjahr 2018 mit der nächsten Zinsanpassung gerechnet.
Wer suchet, der findet? Für Eichhörnchen auf der Suche nach Nüssen mag das gelten. Bei der Suche nach der Inflation schwindet jedoch das Finderglück.