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Kolumne

 
31.03.2017

Der Brexit - Ein Experiment mit völlig ungewissem Ausgang

Robert Halver, Leiter Kapitalmarktanalyse Baader Bank

Bislang war es nur eine unverbindliche Dampfplauderei im englischen Pub oder beim Five O’Clock Tea. Doch nun ist der Antrag auf Scheidung Großbritanniens von der EU in Brüssel eingegangen. Jetzt beginnen die Trennungszeit und harte Verhandlungen.

Wir wissen ja bereits, dass Briten und geringes Selbstbewusstsein so wenig zusammenpassen wie englische Küche und Michelin-Sterne. Doch jetzt wird es übermütig: Premierministerin Theresa May und ihr Außenminister Boris Johnson tun täglich das Glaubensbekenntnis kund, dass der Brexit nicht schlimmer ist als der Verlust eines Cricket-Turniers irgendwo in den Midlands. Die Risiken seien klein und die Chancen groß. Ja, es gehe aufwärts. Da hat der britische Löwe wohl die Jahresration an Kraftfutter auf einmal zu sich genommen.  
 

Es geht aufwärts, sprach der Fisch, nachdem er angebissen hatte

Doch diese Scheidung ist alles andere als ein lockeres Picknick im Hyde Park. Der mögliche Wegfall des größten Binnenmarkts der Welt, nämlich die EU, wäre für die Briten so unangenehm wie nebeliges Wetter das ganze Jahr. Die Verhandlungsführer der Insel werden schnell merken, dass die eigenen handelspolitischen Machtpotenziale eher die Qualitäten eines Yorkshire Terriers und weniger die eines Pitbulls haben. Die Gegenseite der EU hat mehr Biss.

Vor allem die Wunderwaffe der britischen Volkswirtschaft, die auf der Insel angesiedelten Banken, müssen aufpassen, ihre Qualitäten als Hechte im Finanz-Karpfenteich nicht zu verlieren. Um ihre Geschäftsfähigkeit mit der Rest-EU aufrechtzuerhalten, benötigen sie eine Lizenz. Dazu müssen sie in Feindesland, in die EU, z.B. nach Frankfurt umsiedeln. Wertschöpfung und Arbeitsplätze in der Londoner Finanzmetropole gehen verloren.  

Aber auch die Firmen ihrer Majestät mit einem Exportanteil in die EU von ca. 45 Prozent haben ein ernstes Problem. Käme es nach Brexit zu keinem neuen Freihandelsabkommen, unterlägen Exporte von Großbritannien den Regeln der Welthandelsorganisation WTO, würden also Zölle von 10 Prozent fällig. Großbritannien wäre als Exportstandort so wenig attraktiv wie zerkochtes Gemüse für Kontinentaleuropäer.

Überhaupt sind die britischen Produkte abgesehen von gefühlt 10.000 Kekssorten und jeder Menge Royal Kitsch nicht so attraktiv, dass sie auch noch nach Auferlegung von Importzöllen bedingungslos gekauft würden. Auch Margaret Thatcher hat ganze Arbeit geleistet: Die einst ernstzunehmende englische Industrie hat sie vom Hof gejagt wie einen tollwütigen Hund.

Selbstverständlich kann man an der Qualität seines Wirtschaftsstandorts arbeiten, was jedoch viel Zeit und Geld kostet. So könnte man die Unternehmenssteuern dramatisch senken. Doch das würde das britische Haushaltsdefizit explodieren lassen. Und bei Senkung der Löhne, also der Arbeitskosten, wüssten die Briten, dass sie im Juni 2016 ihr Kreuzchen falsch gesetzt haben. Sie wären not amused. Selbst ein schwaches britisches Pfund verspricht keinen Erfolg. Denn alle Länder wollen über schwache Währungen ihren Export stimulieren.  
 

Selbst die britische Strategie, in der EU verbrannte Erde zu hinterlassen, ginge nicht auf

Ein starker Schulterschluss mit den USA, um der EU die kalte Handels-Schulter zu zeigen, klingt zunächst für britische Ohren verlockend. Aber der Wert Großbritanniens besteht für Trump hauptsächlich darin, das Land als Hebel zum Aufbrechen der EU-Tür zu benutzen.  

Auch die strategische Hoffnung, dass die europäischen Nationalwahlen EU-unfreundlich ausfallen, was Großbritannien indirekt politisch aufwertete, wird sich zumindest auf absehbare Zeit nicht erfüllen. Eher wackelt Großbritannien selbst. Denn in Wales, Nordirland und Schottland ist die Sympathie für den Brexit ähnlich hoch wie Fish & Chips für Feinschmecker.

Selbst die Kosten der Scheidung sind nicht unbedingt ein Druckmittel. Großbritannien könnte zwar drohen, seine EU-Schulden in Höhe von 60 Milliarden Euro nur dann zu bezahlen, wenn man dem Land handelspolitisch weit entgegenkommt. Doch zur Not würde die EU-Zeche von Mario Draghi über Ankäufe von Staatsanleihen finanziert. Es gäbe der EZB sogar ein Alibi für geldpolitische Zugaben.
 

Auch die deutsche Wirtschaft leidet unter dem Status Scheidungskind

Grundsätzlich kann die EU den großen Briten in Handelsfragen keinen guten Deal anbieten. Das wäre eine Austrittseinladung an andere EU-Länder, sich ebenso von den Pflichten der EU zu befreien, ihre Rechte aber weiter gerne in Anspruch zu nehmen. Schnell würde aus der EU ein Flickenteppich egoistischer Länder.   

Mit einem schlechten Handels-Deal schneidet sich jedoch vor allem Deutschland ins eigene Fleisch. Großbritannien ist Deutschlands drittgrößtes Ausfuhrland. Überhaupt zahlen sich die fehlenden EU-Beiträge der Briten auch nicht aus der Portkasse. Der größte Batzen bleibt wieder einmal an Deutschland hängen.

Hinter vorgehaltener Hand sind britische und kontinentale Politiker bestimmt nicht glücklich über den Brexit. Deutschland verliert einen Blutsbruder, der sich immer für Marktwirtschaft, Reformeifer, Wettbewerbsfähigkeit und Finanzstabilität ausgesprochen hat. Nach einem britischen Good Bye sind wir mit den Anhängern von Staatsschulden und geldpolitischer Finanzierung allein. Die EU wird dann noch mehr unter stabilitätspolitischer Amnesie leiden.

Geopolitisch kommt die Scheidung für Europa ohnehin zur Unzeit. Im Hinblick auf das Trio Infernale - Trump, Putin, Erdogan - sollten die politischen Energien nicht für einen zermürbenden politischen Scheidungskrieg in der Familie verschwendet, sondern für die Stärkung der EU genutzt werden.  
 

Die Angst der EU vor dem Hard Brexit

Der Zeitplan bis zum Austritt 2019 ist nicht einzuhalten. Es müssen ca. 20.000 (handels-)politische Regeln und Bestimmungen bis 2019 neu verhandelt werden. Zum Vergleich: Kanada und die EU brauchten sieben Jahre für ein Handelsabkommen, das übrigens emotional nicht vorbelastet war. Die einzigen, die sich darüber freuen, sind Juristen. Sie sind wirklich im Paradies.

Ein Scheitern der Verhandlungen ohne Ergebnis - ein Hard Brexit - würde nicht nur eine Handelswüste hinterlassen, sondern auch die Stabilität der Finanzmärkte gefährden. London ist neben New York der wichtigste Finanzplatz der Welt. Unklarheiten in Finanzbeziehungen zwischen Insel und Kontinent oder sogar fehlende Regeln führen im Extremfall zu einer Wiederholung von 2008: Damals hat das Misstrauen in der Finanzindustrie zur Weltfinanzkrise geführt.

Daher erwarte ich Übergangslösungen und eine verlängerte Trennungszeit, um vor allem das böse Finanzmarkt-Monster nicht zu wecken. In der Tat, laut EU-Recht kann der Europäische Rat im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig beschließen, die Trennungsfrist beliebig zu verlängern. Für politische Hintertürchen ist es in Europa nie zu spät.
 

Trennungszeit ja, aber spätere Versöhnung nicht ausgeschlossen

Insgesamt wird noch viel Wasser die Themse herunterlaufen, bis der Brexit überhaupt spruchreif werden kann. In der Zwischenzeit werden die Briten immer mehr am eigenen Leib spüren, dass sie auf politische Rattenfänger hereingefallen sind, die ihnen nach Brexit zwar blühende Landschaften versprochen, aber tatsächlich Wirtschaftswüsten geben werden

Steter Tropfen höhlt den Stein: Sollte sich die öffentliche Meinung in Großbritannien über den Brexit geläutert haben, könnte eine neue, weniger starrsinnig agierende Regierung jederzeit und einseitig ihre Austrittsabsicht zurückziehen. Dann bliebe alles beim Alten. Denn die britischen Politiker stehen nach Brexit vor einem Dilemma. Vor dem Hintergrund einer harten Verhandlungshaltung der EU kann nur ein Abkommen voller teurer britischer Zugeständnisse an die EU möglich sein. Oder man hat gar kein Abkommen, also einen ungeregelten Austritt, der Großbritannien in einer globalen Welt buchstäblich nur noch Inselstatus zubilligt.

Und da gibt es für die Londoner Regierung im Hinblick auf die Exit-renitenten Schotten noch ein willkommenes Alibi: Lieber ein zusammenhängendes Großbritannien innerhalb als ein Kleinbritannien außerhalb der EU.

Kommt es also zum Happy End, hätte Großbritannien am Ende nur schlecht geträumt. Die EU und Deutschland würden dann komplett auf Häme verzichten und sogar Brücken bauen, um den Briten politische Gesichtswahrung zu gewähren.

Mit dem Ausstieg aus dem Einstieg in den Ausstieg aus der EU hätten beide Seiten gewonnen. Diese doppelte Wende wäre übrigens heilsam für Fluchtgelüste anderer EU-Länder. Europa hätte zwar Zeit und Geld verloren, damit aber letztendlich in seine gemeinsame Zukunft investiert.
 

Ich behaupte, die Chancen für einen Bremain sind noch da. Wetten, dass…?
 

Um die berufliche Zukunft der aktuellen britischen Regierung müsste man sich keine Sorgen machen. Theresa May, die zukünftige Ex-Eiserne Lady 2.0, könnte Vorträge zum Thema „The Lost British Empire“ halten. Und Außenminister Boris Johnson wäre die Idealbesetzung als Doppelgänger und Parodist von Donald Trump.