Die EZB weitet ihre „pandemische“ Liquiditätsversorgung aus. So umschifft sie geschickt das kritische Urteil des Bundesverfassungsgerichts über „reguläre“ Anleihekäufe. Doch werden die Aktienmärkte neben der Liquiditätshausse auch fundamental durch die freizügigen Konjunkturpakete wie in Deutschland und eine anhaltende Wiederöffnung der Wirtschaft gestärkt. Aber muss man nicht Wasser in den süßen Aktien-Wein gießen? Ist die Einbahnstraßen-ähnliche Aktien-Rallye nicht zu heiß gelaufen, so dass bald ein jähes Ende droht?
Die EZB gesteht ein, dass der erwartete Konjunktureinbruch 2020 dramatischer ausfällt. Konkret rechnet sie in ihren aktuellen Wachstumsprojektionen mit einem Minus von 8,7 Prozent. Ermutigend ist zwar die für die kommenden Jahre erwartete markante Gegenbewegung: 2021 5,2 statt 1,3 und 2022 3,3 statt 1,4 Prozent. Allerdings bestehen für dieses Basisszenario laut EZB-Chefin Lagarde große Abwärtsrisiken.
Tatsächlich hat die Euro-Konjunktur ihren Tiefpunkt Ende April passiert und verzeichnet im Mai eine zunehmende Belebung. Der „Corona Shutdown Index“ liefert hierfür klare Anzeichen. Anhand von mobilen Daten der Google COVID-19 Community Mobility Reports liefert er Bewegungstrends im Einzelhandel, in Lebensmittelgeschäften, Apotheken und am Arbeitsplatz. So lassen sich je nach Land wirtschaftliche Folgen der Eindämmungs- bzw. Lockerungsmaßnahmen beobachten. Auch wenn man von Vorkrisen-Niveaus vor allem in den Euro-Südländern noch weit entfernt ist, setzt sich die Wirtschaftsbelebung dort und auch in den USA sowie den Schwellenländern stetig fort.
Für Inflationsdruck reichen die konjunkturellen Lebenszeichen aber definitiv nicht aus. Im Gegenteil: Angesichts gefallener Energiepreise und steigender Arbeitslosigkeit befinden sich die Inflationserwartungen - denen die tatsächlichen Inflationsdaten mit zeitlicher Verzögerung in der Regel folgen - auf allzeittiefem Niveau. Und bei einer anämischen Preissteigerung auf Vier-Jahres-Tief im Mai von 0,1 Prozent will die EZB die Leitzinsen so lange auf ihrem aktuellen oder einem niedrigeren Niveau lassen, bis sich eine durchgängige Annäherung der Preissteigerung an ihr offizielles Inflationsziel von zwei Prozent einstellt. Mit Blick auf ihre verhaltenen Inflationsprojektionen - 2020 0,3 statt 1,1; 2021 0,8 statt 1,4 und 2022 1,3 statt 1,6 Prozent - kann dies frühestens 2022 der Fall sein. Bedenkt man, dass die offizielle Inflation tatsächliche Preistreiber ohnehin nicht adäquat berücksichtigt, verschiebt sich dieser Zeitpunkt des restriktiven Eingreifens noch weiter nach hinten.
Vor diesem Hintergrund wird die EZB noch offensiver. Zunächst setzt sie ihre „regulären“ Anleihekäufe über monatlich 20 Mrd. Euro unbeirrt fort. Daneben verlängert sie ihr Pandemic Emergency Purchase Programm (PEPP), das bis Ende 2020 geplant war, bis mindestens Juni 2021. Und da ihr beim derzeitigen Tempo ihrer Not-Anleihekäufe - wöchentlich 25 bis 30 Mrd. Euro - spätestens im Oktober die Munition ausgeht, erhöht die EZB die Aufkaufsumme des PEPP um 600 Mrd. Euro auf insgesamt 1,35 Bio. Euro.
Bei Bedarf wird diese Verlängerung bzw. Erhöhung nicht die letzte gewesen sein. Dabei kann sich die EZB sogar auf das kritische Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) berufen. Es stuft die Aufkäufe unter ihrem „regulären“ Programm zwar als teilweise verfassungswidrig ein, gewährt der EZB jedoch das pandemische Aufkaufprogramm. Diese Not-Variante bietet zur klassischen den Vorteil der größtmöglichen Flexibilität. Da es keinen Aufkaufkriterien unterliegt, kauft die EZB vergleichsweise viele italienische Staatsanleihen auf, während sie sich bei deutschen zurückhält. Diese planwirtschaftliche Geldpolitik der EZB führt zu einem quasi-sozialistischen „Zusammenlaufen“ der 10-jährigen Staatsanleiherenditen in der Eurozone, weil Bonitätsunterschiede konsequent ignoriert werden. Der Stabilitätsgeist der Deutschen Bundesbank ist für immer durch die offenen Fenster in der Chefetage der EZB entschwunden.
Die Verhinderung einer neuen Euro-Schuldenkrise durch die EZB sorgt in Verbindung mit dem epochalen, aber auch stabilitätsfeindlichen europäischen Rettungspaket dafür, das die Risse in der Fassade der EU einstweilen gekittet sind. Angesichts so abnehmender politischer Risiken in Europa reagiert der Euro mit klarer Aufwertung gegenüber den wichtigen Handelswährungen US-Dollar, Japanischer Yen und Schweizer Franken.
Investoren, die sich im Mai gemäß der bekannten Börsenweisheit „Sell in May and go away“ von ihren Aktien getrennt haben, ließen ordentlich Performance liegen. Der DAX stieg im gefürchteten Börsenmonat um mehr als sieben Prozent und wurde nur von einer Handvoll Aktienmärkte in den Schwellenländern überflügelt. Man vertraut den positiven konjunkturellen Frühindikatoren.
So fällt das deutsche Konjunkturprogramm mit 130 Mrd. Euro umfangreicher aus als erwartet und wird auch Wirkung zeigen. Jedoch ist es eher strukturkonservativ als zukunftsorientiert. Es geht doch nicht nur um die Wiedererreichung des Vorkrisenniveaus mit all seinen Defiziten. Es geht darum, den deutschen Wirtschaftsstandort so innovativ und leistungsfähig zu machen, dass er mit Amerika und China mithalten kann. Das wird die entscheidende Aufgabe deutscher, aber auch europäischer Wirtschaftspolitik sein müssen. Die Abwanderung von Unternehmen darf nicht zum neuen deutschen Exportschlager werden.
Insgesamt bezahlen die Börsen eine positive Zukunft. Anleger betrachten die zunehmenden Lockerungsmaßnahmen bei weiterhin niedrigen Neuinfektionen und eine extrem ausgabefreudige Fiskalpolitik als fundamentale Wunderwaffen. Diese Vorschusslorbeeren dürfen aber nicht enttäuscht werden. Jede Rücknahme von Lockerungen wird die Aktienmärkte enttäuschen. Auch darf der US-chinesische oder der transatlantische Handelskonflikt keine kritischen Dimensionen erreichen, die die weltwirtschaftlichen Auftriebskräfte gefährdeten.
Besonders gute Konjunkturdaten kommen aus China, wo die Binnennachfrage und die Konjunkturstimmung in Industrie und Dienstleistung sich auch zum weltkonjunkturellen Vorteil weiter aufhellt.
Dass Anleger immer mehr Vertrauen in die globale Konjunkturerholung fassen, kommt auch in der Outperformance von Zyklikern zu Defensivtiteln zum Ausdruck. Seit Mitte Mai gehören die Sektoren Autos, Rohstoffe sowie Reise und Freizeit zu den Top-Performern, die von massiven Nachholeffekten profitieren. Gleichzeitig bilden Sektoren wie Pharma und Lebensmittel das Schlusslicht.
Von diesen Nachholeffekten profitieren konsequenterweise die zyklisch orientierten deutschen Aktien. Der Dax schließt allmählich seine Performancelücke zu amerikanischen Aktien.
Je mehr die Konjunkturerholung Tritt fasst, umso spürbarer werden sich ebenso die Gewinnaussichten der Unternehmen aufhellen. Das entspannt perspektivisch auch die Aktien-Bewertungen gemäß Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV), die bei US-Titeln zuletzt ein neues Allzeithoch erklommen haben.
Aufgrund der horrenden Überbewertung von Zinspapieren wird ohnehin klar, dass Aktien relativ nicht zu teuer sind. So ist das KGV einer 10-jährigen US-Staatsanleihe rund sechs Mal höher als das des S&P 500.
Vielen geht die Erholung zu schnell. Zwischenzeitliche Gewinnmitnahmen sind insofern einzukalkulieren und auch gesund. Da sich der Anteil der Optimisten am US-Aktienmarkt abzüglich des Anteils der Pessimisten in neutralem Terrain befindet, ist aber die Gefahr massiver und nachhaltiger Kursrückgänge begrenzt.
Auch signalisiert die schrittchenweise ansteigende Investitionsquote bei US-Fondsmanagern einen grundsätzlichen Risikoappetit institutioneller Investoren. Abseits ihrer volkswirtschaftlichen Modelle realisieren sie, dass Geld- und Fiskalpolitik in großer Harmonie alles tun, um die Rezession so klein wie möglich zu halten. Angesichts grundsätzlich noch schlechter harter Konjunkturdaten muss aber eine höhere Schwankungsbreite an den Aktienmärkten einkalkuliert werden.
Charttechnisch liegt bei einer fortgesetzten Erholung ein erster Widerstand bei 12.488 Punkten. Es folgen Barrieren bei 12.578 und 13.090. Darüber liegt das mittelfristige DAX-Ziel bei 13.139, bevor der Index Kurs auf 13.525 nimmt. Auf der Unterseite liegt eine erste Haltelinie bei 12.393. Weitere Unterstützungen folgen bei 12.340, 12.085 und 11.715 Punkten.
In China unterstreichen schrumpfende Im- und Exporte eine nicht reibungslose Konjunkturerholung.
In den USA stabilisiert sich das von der University of Michigan ermittelte Konsumentenvertrauen weiter auf niedrigem Niveau. Erneute Rückgänge bei Erstanträgen auf Arbeitslosenhilfe und registrierten Arbeitslosen in den USA zeigen, dass das Schlimmste am Arbeitsmarkt überstanden ist. Trotzdem wird die US-Notenbank auf ihrer Sitzung die unverändert klare Bereitschaft zu weiteren Liquiditätsmaßnahmen signalisieren, zumal sich der Deflationstrend fortsetzt.
In der Eurozone deuten die Sentix Konjunkturerwartungen für die kommenden sechs Monate auf freundlichere Wirtschaftsperspektiven hin. In Deutschland hat sich laut den harten Konjunkturdaten Industrieproduktion und Exporten aber noch keine Wirtschaftsverbesserung abgezeichnet.