Offenbar ist Europa nicht mehr das „Schmuddelkind“ der Weltwirtschaft. Der Kelch einer harten Energiekrise scheint an uns vorüber zu gehen und Chinas Wiedereröffnung wirkt wie Balsam auf lange klaffende Export-Wunden. Im Gegensatz dazu stehen in den USA die Rezessionsrisiken im Mittelpunkt. Damit hat Aktien-Europa aktuell einen Lauf und sogar gegenüber der US-Konkurrenz die Nase vorn. Aber wie nachhaltig ist diese Entwicklung?
Die Stimmungsstabilisierung in der Industrie und bei Dienstleistern der Eurozone setzt sich fort. Eine immer bessere Verfügbarkeit von Vorprodukten, milde Witterungsverhältnisse und großzügige Staatshilfen zur Bewältigung der Gaspreise lassen die Euro-Konjunktur statt auf ein hard auf ein soft landing zusteuern. Die sich verringernden Materialengpässe versetzen Unternehmen in die Lage, endlich die gut gefüllten Auftragsbücher abzuarbeiten und damit Rechnungen schreiben zu können. Nicht zuletzt betreiben insbesondere deutsche Unternehmen einen erfolgreichen fuel switch, indem sie - wo immer möglich - von Gas auf Öl umrüsten.
Einen besonderen Schub erhalten Europas und Deutschlands exportstarke Industrieunternehmen von der Wiedereröffnung Chinas. Wegen eines vergleichsweise geringeren China-Geschäfts der US-Konzerne können sie sich weniger von der eingetrübten Binnenkonjunktur befreien.
Vor diesem Hintergrund fällt der Abschwung in Deutschland gemäß ifo Konjunkturmatrix - sie setzt Geschäftslage und -erwartungen zueinander in Beziehung - zukünftig mindestens milder aus. Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet für Deutschland sogar mit einem Wachstum von bis zu 0,5 Prozent, nachdem er zuvor eine Konjunkturschrumpfung um 0,3 Prozent in Aussicht gestellt hat. Und es ist noch mehr Überraschungspotenzial nach oben zu erwarten.
Vor diesem Hintergrund nimmt der 2022 noch herrschende fundamentale Gegenwind für Euro-Aktien ab und dreht allmählich nach oben.
Auch die relative Gewinnstärke Europas gegenüber den USA setzt sich fort. Weitere Ertragskraft kommt für europäische Unternehmen von Amerika selbst in Form des Inflation Reduction Act, wenn sie ihre Produktion zunehmend nach Amerika verlagern. Beispielsweise winken RWE rund 30 Prozent Steuergutschriften für den Bau von Windanlagen vor der Küste Kaliforniens. Diese „Go West"-Kultur schadet sicherlich dem Industriestandort Europa, nicht aber der Ertragslage der hier gelisteten Unternehmen, die sich schon aus Gründen der Wettbewerbsfähigkeit keine Heimatliebe erlauben können.
Diese fundamentale europäische Krisenerleichterung schlägt sich in einer klaren Outperformance von Euro- zu US-Aktien nieder. Beweis dafür ist die massive Euro-Aufwertung von gut 13 Prozent in vier Monaten, die auch auf Portfolioinvestitionen aus den USA in den Euroraum zurückgehen. Übrigens tut die Währungsbefestigung auf diesem Niveau noch nicht weh.
Nicht zuletzt profitieren die Eurozone und ihre Aktienmärkte im Vergleich von einem attraktiveren geldpolitischen Umfeld. Während die Fed ihre Bilanzsumme monatlich um 90 Mrd. US-Dollar verringert, betreibt die EZB mit einer Reduktion um 15 Mrd. Euro bislang nur verhalten Liquiditäts-Diät. In der Tat, die Bilanzsumme der EZB, die Rückschlüsse auf den Grad der Staatsfinanzierung zulässt, ist auf rund 65 Prozent der Wirtschaftsleistung angewachsen. Bei der Fed sind es lediglich 35 Prozent.
Zwar zeichnet sich bei der Fed allmählich das Ende der Leitzinswende bei schätzungsweise 5,25 Prozent im Frühsommer ab, während EZB-Chefin Lagarde davon spricht, die EZB-Zinsen noch weiter erheblich in stetigem Tempo zu erhöhen.
Doch ist eine Zinswende auch bei der EZB abzusehen, die bei etwa 3,75 Prozent liegt. Eine Schock-Therapie nach dem Vorbild der Fed kann sie sich nicht erlauben. Europa ist mit größeren Herausforderungen struktureller - Energiewende, Digitalisierung, Infrastruktur - und politischer Art - u.a. fehlender Zusammenhalt - konfrontiert. Der politische Wunsch nach ein bisschen mehr Neuverschuldung, die von der EZB „freundlich“ begleitet werden soll, ist klar erkennbar.
Unter dem Strich bleiben die realen Notenbankzinsen in der Eurozone negativ und damit sowohl konjunktur- als auch aktienfreundlich, während sie in Amerika perspektivisch in positives Terrain vordringen könnten.
Trotz des Katapult-Starts in das neue Jahr sind Aktien aus der Eurozone und insbesondere Deutschland noch immer günstig bewertet. Trotz wirtschaftlicher und geldpolitischer Unterstützung werden sie weiterhin mit einem vergleichsweise hohen Abschlag zu US-Aktien gehandelt. Das spricht dafür, dass die Nachholeffekte von europäischen Aktien zu US-Titeln noch nicht ausgeschöpft sind.
Davon profitieren substanzstarke Value-Aktien mit erprobten Geschäftsmodellen und stabilen Cashflows, die unempfindlicher gegenüber steigenden Zinsen sind, da ihre Gewinne nicht so weit in der Zukunft liegen wie bei klassischen Wachstumswerten und daher weniger stark diskontiert werden. Vor allem Aktien aus dem Bereich Industrie und Automobil profitieren von Chinas Reflation.
Da aber auch Digitalisierung, Datenspeicherung in der Cloud, 5G-Ausbau und Automatisierung von Industrieprozessen nachhaltig verlässliche Geschäftsmodelle sind, sollten Anleger ebenso Tech-Werte im Auge behalten. Value hat im Moment sicher noch die Nase gegenüber Growth vorn. Die im Zeitablauf nachlassende Zinsangst wird das Bewertungskorsett jedoch lockern. Und wenn sich Industrieunternehmen weiter erholen, werden sie auch wieder in Automatisierung investieren. Über diese Stoßrichtung werden ebenso US-Tech-Aktien zulegen.
Überhaupt ist Amerika ein Stehaufmännchen. Die Wall Street fällt immer wieder auf die Füße. Europas Aktien haben im Moment sicherlich einen Lauf und mit verbesserter weltkonjunktureller Lage können sich zyklische Titel weiter festigen. Aber ohne eine marktwirtschaftlich denkende Politik und eine intensive Nutzung des Aktiensparens für die Altersvorsorge ist Europa zu einer nachhaltigen Outperformance gegenüber Amerika nicht fähig.
Das ritualisierte Drama um die US-Schuldengrenze steht vor der Wiederaufführung. Dieses Schlamm-Catchen zwischen Republikanern und Demokraten ist mehr Folklore und hat eher wahlpopulistische Bedeutung. Eine Staatspleite der USA ist aber nicht zu befürchten. Diesen Super-GAU wird jeder amerikanische Politiker vermeiden, um nicht als Staatsfeind zu gelten. Von zwischenzeitlichen Irritationen abgesehen, ist nicht mit nachhaltig kursgefährdenden Entwicklungen zu rechnen.
Auch wenn schwarze Schwäne - wie wir alle seit 2008 wissen - nicht ausgeschlossen werden können, haben die Aktienmärkte ihre Tiefs wohl hinter sich gelassen. Die Krisen - Konjunktur, Energie, Inflation, Zinsen - haben weniger Schadenspotenzial. Und ohne weitere Eskalation scheint der Ukraine-Krieg an Bedeutung zu verlieren.
Überhaupt, mit dem Rückgang der sich zinsverteuernden Wertpapierkredite an der New York Stock Exchange von ihrem Allzeithoch im Oktober 2021 auf den niedrigsten Stand seit Sommer 2020 hat an Wall Street bereits eine deutliche Flurbereinigung stattgefunden.
Dennoch trauen sich die Anleger an den US-Börsen noch nicht vollkommen aus der Deckung. Sie warten auf mehr (Zins-)Klarheit, die die Fed beginnend mit der Notenbanksitzung in der kommenden Woche schaffen könnte. Und wenn sich das Thema Zinserhöhungen erst einmal erledigt hat, fällt eine markante Bleiweste für die amerikanischen Aktienmärkte final weg.
Fundamental liefert die US-Berichtssaison für das IV. Quartal bislang gemischte Vorzeichen. Den US-Banken macht die sprunghaft angestiegene Vorsorge für Kreditausfälle zu schaffen. Und die bisherige Sonderkonjunktur der High-Tech-Werte ist wegen Zurückhaltung bei der Nutzung von Cloud-Dienstleistungen - siehe Microsoft - ebenso noch kein Selbstläufer.
Insgesamt haben die Analysten die Gewinnerwartungen für Corporate America für die kommenden 12 Monate im Trend weiter gesenkt. Doch scheinen die Negativ-Revisionen und damit das Enttäuschungspotenzial der folgenden Berichtssaisons eingepreist zu sein.
Selbst im „Krypto-Winter“ kommen zwischenzeitlich Warmfronten zum Vorschein. Die dramatische Flurbereinigung nach den Skandalen und das sich langsam abzeichnende Ende der Zinswende bescherten dem Bitcoin einen Kurssprung um 38 Prozent seit Jahresbeginn, nachdem er im 2022 um 64 Prozent eingebrochen war. Es scheint sich die Einsicht durchzusetzen, dass der Bitcoin überleben wird. Da aber viele unbeantwortete Fragen zu viele Einschätzungsfehler ermöglichen, bleiben Kryptos Spekulationsobjekte. Im Gegensatz dazu präsentiert sich Gold als braver und sicherer Hafen. Der geschwächte US-Dollar und der wieder zunehmende Kauf des Edelmetalls im sich wirtschaftlich erholenden Asien verleihen Aufwind.
Aus Sentimentsicht sind die massiven Leerverkäufe an den Aktienmärkten nun eingedeckt, so dass die Börsen nach der kraftvollen Erholung zunächst zurückschalten. Dass die starke Dominanz der Pessimisten an Wall Street gemäß der Befragung der American Association of Individual Investors abgebaut ist, deutet ebenfalls auf eine Beruhigung hin.
Doch laut Umfrage der Bank of America unter Fondsmanagern ist die Kassenhaltung trotz der jüngsten Stabilisierung immer noch hoch. Aufhellungen werden für Zukäufe genutzt.
Charttechnisch liegen auf dem Weg nach oben die nächsten Widerstände bei 15.147, 15.150, 15.182 und 15.219 Punkten. Darüber folgen Barrieren bei 15.250 und 15.270. Kommt es zu einer Konsolidierung, bieten die Marken bei 15.150, 15.082, 15.001 und 14.906 Halt. Darunter liegen weitere Unterstützungen bei 14.819, 14.676, 14.584 und 14.570 Punkten.