Im Fokus wird die Rezession stehen, die gewinnseitiges Ungemach für Aktien birgt. Immerhin erlaubt eine nachfrageseitige Inflationsentspannung der Geldpolitik den Einstieg in den Ausstieg aus der Zinswende. Mit Blick auf die Krisen wie den andauernden Ukraine-Krieg, Energieknappheit bei horrenden Preisen und eine Zweiteilung der (Wirtschafts-)Welt ist genügend Potenzial für Schwankungen der Aktienindices vorhanden. Daher sollte die Branchen- und Einzelwerteselektion im Mittelpunkt stehen.
In den USA wird die Stimmungseintrübung bei Dienstleistern und in der Industrie von Bremsspuren am Immobilienmarkt flankiert. Wegen Kaufkraftverlust zeigt vor allem der Konsum als Rückgrat der Wirtschaft Schlagseite. Das Erreichen eines Soft Landing wird zur echten Herausforderung.
Gleich vierfach leiden die Eurozone und Deutschland: Für die industrie- und exportseitigen Geschäftsmodelle mangelt es an Vorprodukten, die sich zudem dramatisch verteuern. Zudem sind die Absatzmärkte der Welt weniger nachfragefreudig. Als schweres Handicap kommt speziell die Gaskrise hinzu, deren Ende unabsehbar ist. Deutsche Gasversorger sprechen mit der Bundesregierung sogar schon über Staatshilfen wie Garantie- und Sicherheitsleistungen, Kreditbürgschaften und Eigenkapitalbeteiligungen. Auf die Rettung der Banken könnte die Rettung der systemrelevanten Versorger folgen. Denn die Industrie ist von Energie abhängig wie der Fisch vom Wasser. Zumindest sorgen Nachholeffekte im Dienstleistungssektor nach Corona für teilweise Kompensation.
In China bleibt die Zero-Covid-Strategie mit Folgeschäden auf die weltweiten Logistikketten ein hartnäckiges Problem. Wiederöffnungen der Wirtschaft sind frühestens nach dem Parteitag der KP im Oktober möglich, auf dem sich Chinas Staatspräsident als Corona-Sieger feiern lassen will.
Angesichts von Konjunktureinbußen sinken die Metallpreise. Eine „Sonderkonjunktur“ erleben dagegen Öl und Gas. Markantere Ölrückgänge wird die OPEC+ förderseitig kompensieren. Ihr Trauma von an den Terminmärkten negativen Ölpreisen wirkt nach. Beim Gaspreis hat der russische Staatspräsident die Hand drauf, was weitere Inflationsrisiken schürt. Insgesamt schreitet dennoch die Preisentspannung im Rohstoffsektor voran, was den relativen Preisdruck immer mehr hemmt.
Mittlerweile ist auch das von der Fed geschätzte Inflationsmaß der Kerninflationsrate bereits zum dritten Mal in Folge gefallen. Die US-Notenbank betrachtet ihn als Indikator, inwieweit der Preisdruck sich in Zweitrundeneffekten fortsetzt. Vor diesem Hintergrund dürfte der Inflationsgipfel ab Sommer - wenn auch zäh wie Kaugummi - überschritten werden.
Mit einer radikalen Zinserhöhungspolitik will die Fed das Unvermeidliche - die Inflationsbekämpfung - schnell hinter sich bringen, damit Konjunktur und Börse nicht zu lange von einer lähmenden Zinsangst belastet werden. Tatsächlich erwarten die Finanzmärkte, dass die Fed ab 2023 wegen wachsender Konjunkturrisiken in den zinspolitischen Rückwärtsgang schaltet. Eine Beruhigung des Preisdrucks dürfte sich ebenso in einer Stabilisierung der Staatsanleiherenditen zeigen, die offenbar schon eingeleitet ist.
Jetzt hat selbst die EZB die Inflations-Scheuklappen abgenommen. Präsidentin Lagarde glaubt nicht mehr an die Rückkehr zu niedriger Inflation. Ist Erkenntnis der erste Schritt zur Besserung? Es wird zwar Zinserhöhungen geben, aber keine Fed-ähnliche, ernsthaft preisstabilisierende Zinspolitik. Die Verhinderung einer neuen Staatsschuldenkrise in Europa genießt Priorität.
In diesem Zusammenhang arbeitet sie übrigens mit Hochdruck an der „De-Fragmentierung“: Die Risikoaufschläge von Staatsanleihen der Euro-Südzone zu deutschen sollen bestimmte Schwellenwerte nicht überschreiten. Dazu werden auslaufende Staatspapiere nördlicher Euro-Länder schwerpunktmäßig in der Peripherie wiederangelegt. Davon profitieren deren Renditen, während die von Bundesanleihen im Trend weiter ansteigen.
Trotz vieler, teilweise neuer Krisen fällt Gold ein nachhaltiger Anstieg schwer. Auch das Gold-Embargo gegen Russland zeigt keine Wirkung. Mit der Zinserhöhungsrhetorik wird dem klassischen Argument, wonach physisches Gold keine Zinsen zahlt, wieder mehr Bedeutung geschenkt.
Zwar sind die nach Inflation klar negativen Realzinsen Freunde von Aktien und Edelmetallen. Doch offenbar wird zukünftig mit einer Abschmelzung des Realverlustes durch nachgebende Inflationsraten gerechnet.
Dagegen bleibt die Goldnachfrage der Notenbanken u.a. aus China, Indien und Russland robust, die ihre Abhängigkeit von US-Staatspapieren diversifizieren. Zudem profitiert Gold von seiner Werterhaltungsfunktion in geopolitisch schwerer Zeit. Gold ist grundsätzlich unterbewertet.
Die lange gehegte Vision von Bitcoin & Co. einer nachhaltigen Anlage zur Risikostreuung hat sich im 1. Halbjahr nicht nur nicht gezeigt, sondern in das Gegenteil verwandelt. Es hat eine gründliche Flurbereinigung eingesetzt. Ein weniger üppiges geldpolitisches Umfeld zeigt Wirkung. Hinzu kommt, dass die Menschen wegen Corona nicht mehr nur zuhause sitzen und sich an der wundersamen Geldvermehrungsmaschine der Kryptos laben. Daneben hat der Absturz des Stablecoins Terra eine Kettenreaktion in der gesamten Krypto-Welt losgetreten. Die Zeit der Pioniergewinne ist endgültig vorbei.
Immerhin trennt der „Krypto-Winter“ die Spreu vom Weizen. Auf dem Weg zur ernsthaften Anlageklasse müssen Kryptos beweisen, dass sie den Krisen und der zunehmenden Regulierung gewachsen sind. Danach ist die Branche professioneller, stabiler und weniger schwankungsanfällig aufgestellt. Unabhängig davon geht der technologische Fortschritt auch im momentan schwierigen Umfeld weiter. So sattelt die Ethereum-Blockchain von der energieintensiven „Proof of Work“- auf die über 90 Prozent sparsamere „Proof of Stake“-Technologie um. Bis auf weiteres bleiben die Kryptos allerdings Spekulationsobjekte.
Noch senken Finanzanalysten die weltweiten Netto-Gewinnerwartungen der Unternehmen für 2023 im Trend weiter. Von massiven Gewinnsenkungen wie während der Corona-, Euro-, Weltfinanz- oder Dotcom-Krise sind wir allerdings weit entfernt.
Fundamental stabilisierend ist, dass selbst geschmälerte Gewinn- ihren Vorsprung vor den Anleiherenditen behalten.
Wegen des dramatischen Kursverfalls in der ersten Jahreshälfte haben sich ohnehin die Kurs-Gewinn-Verhältnisse in den USA, der Eurozone, Deutschlands und den Schwellenländern deutlich entspannt.
Mittelfristig dürften vor allem US-Aktien Anklang finden. Denn während dort die Zinsangst zurückgeht, ist das zyklische Geschäftsmodell Europas wegen Energiekrise und weltweiter Nachfrageschwäche angeschlagen. Die Schwellenländer leiden weiter unter der marktfeindlichen Politik der KP in China.
Grundsätzlich sollte die Anlagestrategie bis Jahresende weniger auf Gesamtindices fokussieren. Vielmehr muss Kernerarbeit in puncto Branchen- und Einzelwerteselektion geleistet werden. Dabei geht es zunächst um Unternehmen, die Preissteigerungen zumindest teilweise weitergeben bzw. Lieferengpässe erfolgreich ausmanövrieren können und die weniger unter Konjunkturangst leiden. Hierbei haben Defensivwerte aus den Bereichen Gesundheit, Infrastruktur und Basiskonsum vergleichsweise gute Chancen. Alternative Energietitel werden zwar massiv von der Politik unterstützt. Doch leiden sie unter dem Mangel an Rohstoffen und Vorprodukten.
Langfristig orientierte Anleger sollten auch Konjunkturtitel sichten, die aufgrund massiver Kursverluste bei geopolitischen bzw. weltwirtschaftlichen Entspannungen über große Hebel verfügen. Der Schwerpunkt liegt vorerst bei größeren, weltweit energie- und umsatzseitig diversifizierten Unternehmen. Dagegen spürt die mittelständische Wirtschaft die Energie-Knute schmerzhafter.
Tech-Aktien haben bereits weitgehend ihre Rekordbewertungen abgebaut und liegen gemäß Kurs-Gewinn-Verhältnis auf ihrem 20-Jahres-Durchschnitt. Außerdem verfügen viele Unternehmen weiterhin über stabile Cash-Flows aufgrund tiefer „Burggräben“ und Preissetzungsmacht. Digitalisierung, Datenspeicherung in der Cloud, 5G-Ausbau und Automatisierung sind nachhaltige Megathemen, die schon aus Gründen der ständigen Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit von Industrieunternehmen verlässliche Geschäftsmodelle bleiben.
Angst und Risikoaversion halten sich ungewöhnlich hartnäckig und lang. Die nach wie vor hohe Kassenhaltung der US-Fondsmanager bestätigt diese Sichtweise. Und gemäß der Umfrage der American Association of Individual Investors trauen sich ebenso US-Kleinanleger nicht wieder an die Börse zurück. Auch wenn die anhaltende Dominanz der Pessimisten am US-Aktienmarkt typischerweise als ein ermutigender Kontraindikator für eine bald abgeschlossene Bodenbildung gilt, ist die Flut an teilweise unbekannten Risiken offenbar noch nicht verarbeitet. Bis sich Lichtblicke an den Krisenfronten zeigen, wird das Geld an den Seitenrändern geparkt.