Die fulminante Jahresend-Rallye basiert auf der Inflationsentspannung, die Notenbanken die Zinswende erlaubt und sich bereits in fallenden Anleiherenditen zeigt. Ist die Hausse übertrieben, da die Zinssenkungsphantasie weitgehend eingepreist ist? Haben wir also spätestens nach Neujahr Katerstimmung? Für eine Fortsetzung der guten Stimmung brauchen die Börsen das zweite, das fundamentale Standbein. Aber inwieweit ist konjunkturelle Besserung in Sicht?
Im Konjunkturbericht der US-Notenbank (Beige Book) attestieren mehr als die Hälfte der befragten Unternehmen der Konjunktur eine nachlassende Dynamik. Immerhin, laut ISM Subindex für Neuaufträge beult die US-Industrie ihre Wachstumsdelle zunehmend aus, während sich Dienstleister im Trend stabilisieren.
Der Konsum als Haupttreiber der US-Wirtschaft wird u.a. durch die finale Aufzehrung der Reserven aus der Pandemiezeit und die Wiederaufnahme der ausgesetzten Rückzahlung von Studentenkrediten gebremst. Auch teure Zinsen und eine geringe Kreditvergabewilligkeit fordern ihren Tribut. Je näher allerdings die erwarteten Zinssenkungen der Fed rücken, umso mehr wird der kreditseitige Gegenwind nachlassen. Ebenfalls kommt der nachgebende Inflationsdruck der Verbraucherlaune zugute.
Nicht zuletzt wird die Zinsberuhigung zur Belebung des amerikanischen Immobiliensektors beitragen. Während durchschnittliche Hypothekenzinsen mit 30-jähriger Laufzeit von fast acht Prozent für Schockfrost sorgten, leiten nachgebende Zinsen das Tauwetter ein.
Gemeinsam mit üppigen Staatsausgaben, die der Zukunftsfähigkeit des US-Standorts zugutekommen, wird die Landung der Wirtschaft sanft ausfallen.
Zumindest bewegt sich die Stimmung in der Industrie gemäß Umfrage des Wirtschaftsnachrichtendienstes Caixin knapp im Expansionsbereich und auch die Moll-Stimmung bei Dienstleistern hat ihren Boden gefunden.
Die Stabilisierung der Investitionen in Chinas Industrie und Infrastruktur auf dem Niveau vor Corona zeigt zudem, dass sich die weltkonjunkturellen Parameter normalisiert haben und die geld- und fiskalpolitischen Muntermacher der KP ihre Wirkung nicht verfehlen.
Ein Handicap bleibt jedoch der bedeutende Immobiliensektor, der rund ein Viertel zur Wirtschaftsleistung beiträgt. Eine Umkehr der seit Frühjahr 2022 schrumpfenden Investitionen ist noch nicht in Sicht.
Um der Vertrauenskrise chinesischer „Häuslebauer“ und dem Unmut der Bevölkerung entgegenzuwirken, orientiert sich die KP immer mehr an westlichen Rettungsmaßnahmen. So wird u.a. diskutiert, dass Banken auch unbesicherte Kredite an ausgewählte Immobilienentwickler vergeben dürfen. Mit dieser unkonventionellen Liquiditätsschwemme soll der krisengeplagte Immobiliensektor an konjunktureller Bremswirkung verlieren.
Von einer Konjunkturstabilisierung in den USA und China wird die deutsche und europäische Wirtschaftsstimmung gemäß den von der Beratungsfirma Sentix veröffentlichten Konjunkturerwartungen im Vergleich zu anderen Weltregionen im Status Quo nur mäßig profitieren können. Denn die hausgemachten wirtschafts- und finanzpolitischen Defizite werden, obwohl ihre schädliche Wirkung klar erkennbar ist, nicht konsequent angegangen. Um Wirtschaftspotenziale zu vergrößern, müssen Infrastruktur, Energiesicherheit zu tragbaren Preisen, Digitalisierung, ökonomische Transformation, Anpassung an Künstliche Intelligenz und Bildung (s. PISA-Studie) endlich beherzt angepackt werden.
Der Blick für Realitäten muss wieder geschärft werden. Wirtschaft ist kein Wunschkonzert und schon gar kein Platz für unsinnige, teilweise naive Experimente. Auch hat der immer üppigere Wohlfahrtsstaat seinen Zenit erreicht. Der Staat muss sparen und dem Leistungsprinzip wieder stärkere Beachtung beimessen. Und wenn die Schuldenbremse gelockert wird, dann einzig und allein nur für produktivitätsfördernde Standortverbesserungen, um den massiven Zukunftsinvestitionen in China oder Amerika Paroli zu bieten.
Nicht zuletzt geht es um Psychologie: U.a. bringt die selbstverschuldete Haushaltskrise, die einer Lösung harrt, weitere Unruhe, Vertrauensverluste und Planungsunsicherheit für Unternehmen und Konsumenten. Es ist doch wie auf dem Bauernhof: Hühner, die keine Ruhe finden, legen auch keine Eier.
Dennoch, laut ifo Geschäftsklimadaten dürfte die deutsche Wirtschaft ihren Boden auf niedrigem Niveau gefunden haben. Dabei hilft sicherlich auch die Inflationsentspannung, die konsumstabilisierend wirkt sowie der 2024 nachlassende Zinsschmerz der EZB. Und ganz wichtig: Deutsche Unternehmen sind weltweit in puncto Produktion und Absatz hervorragend diversifiziert, so dass sie von den deutschen Strukturproblemen abstrahieren können.
Setzt man Wirtschafts- und Inflationstrend zueinander in Beziehung, ergibt sich anhand der vier Phasen des Konjunkturzyklus eine idealtypische Investment-Uhr. Diese dient Anlegern als Entscheidungshilfe, zu welcher „Uhrzeit“ welche Anlageklasse zu favorisieren ist.
Dabei erreicht die Konjunktur in der Boom-Phase zwischen 12 und 3 Uhr ihren Höhepunkt mit deutlich ansteigenden Unternehmensgewinnen. Mit verbesserten Fundamentalqualitäten bleiben Aktien das bevorzugte Investment.
Mit zunehmender Inflation setzen die Notenbanken anschließend auf restriktive Geldpolitik, was die Abschwungphase einleitet. Wegen steigender Kurzfristzinsen ist zwischen 3 und 6 Uhr die Zeit für Festgelder und Geldmarktfonds gekommen.
Schließlich geben in der Rezessionsphase zwischen 6 und 9 Uhr Konjunktur und Inflation nach, was über sinkende Renditen Anleihen Kursgewinne beschert.
Zum Aufschwung der Wirtschaft greifen nachfolgend die Notenbanken mit Zinssenkungen von 9 bis 12 Uhr stützend ein.
Aktuell befinden wir uns gemäß Anlage-Uhr im Übergang von der Rezessions- zur Aufschwungphase. Eine schwache Wirtschaft wird bei sich abschwächender Inflation durch eine auf Freizügigkeit schaltende Geldpolitik dynamisiert. Da wir uns also in der Gegend des Zinsgipfels mit bevorstehendem Abstieg befinden, gehören möglichst langlaufende Staats- und Unternehmensanleihen ins Depot. Schließlich kauft man Anleihen, wenn die Renditen oben sind. Und je länger die Laufzeit, desto größer ist der Kurshebel.
Über internationale Zinsstimulierung avancieren Aktien in Erwartung besserer Konjunkturdaten immer mehr zur nachgefragten Anlageklasse.
In diesem Zusammenhang ist zu erwarten, dass die Wertpapierkredite an der New York Stock Exchange, die von ihrem Allzeithoch im Oktober 2021 aktuell auf den niedrigsten Stand seit Sommer 2020 an Wall Street gefallen sind, wegen Zinsverbilligung wieder steigen werden.
Und dass bei der EZB selbst falkenhafte Direktoriumsmitglieder wie Isabel Schnabel wegen „bemerkenswerten“ Inflationsrückgängen mittlerweile Zinserhöhungen nahezu ausschließen, spricht für sich selbst.
Aus Sentimentsicht hat sich angesichts der DAX-Rallye von rund 2.000 Punkten in sechs Wochen klares Korrekturpotenzial angestaut. Der sehr hohe Anteil der Optimisten gegenüber den Pessimisten am US-Aktienmarkt ist ein Kontraindikator.
Auf eine Abkühlung deutet zudem hin, dass immer mehr Unternehmens-Chefs Aktien ihrer Firmen verkaufen. Sie handeln typischerweise antizyklisch und tätigen Verkäufe dann, wenn die Kurse zu schnell vorausgelaufen sind.
Eine Korrektur ist aber nichts Ungewöhnliches und sogar gesund. Sie würde Anlegern wieder günstigere Kaufgelegenheiten bieten. Denn aufgrund der Rahmenbedingungen für 2024 (Zinssenkungsphantasie, die größer als erwartet ausfallen wird und weltkonjunkturelle Stabilisierung) sind Konsolidierungen - die auch nach Neujahr auftreten werden - Kaufgelegenheiten. Geopolitische Konflikte und die US-Präsidentenwahl werden jedoch für zwischenzeitliche Schwankungsverstärkungen sorgen.
Charttechnisch liegen im DAX auf dem Weg nach oben die nächsten Widerstände bei 16.680, 16.739 und 16.742 Punkten. Im Falle einer Korrektur befinden sich Unterstützungen bei 16.635, 16.629, 16.625 sowie 15.635 und 15.625.