Haben Aktien nach mehrmals gescheiterten Erholungsversuchen jetzt wirklich das Schlimmste hinter sich? Haben sich die Krisen wie das rezessive Umfeld mittlerweile abgenutzt? Die Hauptrollen bei der aktuellen Aktienstabilisierung spielen charttechnische Argumente und die erzwungenen Eindeckungen von Short-Positionen aus Angst, etwas zu verpassen. Für eine nachhaltig gute Stimmung muss aber die Inflation kippen, so dass auch die wuchtige Zinserhöhungspolitik endet.
Auch nach dem 20. Parteitag der KP wird China weiter auf Staatswirtschaft getrimmt.
Trotz gewisser Freiheitsgrade in puncto Überregulierung des Tech-Sektors kann von Aufhebung der restriktiven Politik gegenüber großen Tech-Champions wie Alibaba & Co. aber keine Rede sein. Dabei hat doch der unter dem jetzigen Staatspräsidenten Xi Jinping lange praktizierte marktwirtschaftliche Freigeist erst ernstzunehmende High-Tech-Konkurrenz zu Amerika ermöglicht. Aber aus Angst, dass große Unternehmen die Macht der Zentralregierung untergraben, geht der Kontrollzwang der KP weiter.
Zudem hält die KP weiter an der verordneten Null-Covid-Politik fest, mit der man vorgibt, das Virus ausrotten zu können. Wegen Gesichtswahrung, die in China eine große Bedeutung hat, fällt es dem Staatspräsidenten sehr schwer, sich einzugestehen, dass das Virus nicht auszurotten ist. Vor seiner „Wiederwahl“ für eine dritte Amtszeit, die ihn zum mächtigsten chinesischen Politiker seit Mao macht, will er nicht die kleinste Schwäche zeigen.
Insgesamt verliert China mit dieser staatswirtschaftlichen Knute-Politik im geowirtschaftlichen bzw. technologischen Wettstreit mit Amerika an Boden. Tatsächlich wächst China inoffiziell so wenig wie zuletzt vor rund 50 Jahren. Wirtschaftswachstum ist gut, Kontrolle ist besser.
Nur allmählich scheint die schwer angeschlagene Binnenwirtschaft, die zu großem Unmut in der Bevölkerung führt, ein Nachdenken bei der KP auszulösen. Immerhin lässt sich die Regierung bei ihrer Impfpolitik hinter vorgehaltener Hand von europäischen Wissenschaftler beraten. Mit dem Einsatz westlicher mRNA-Impfstoffe bestünde die Chance, dass Peking die deutlich flexiblere Corona-Politik Hongkongs anwenden könnte, wo westliche Vakzine großflächig eingesetzt wurden. So könnte auch Gesamtchina mehr wirtschaftsfreundliche Bewegungsfreiräume erhalten.
Ansonsten bleibt China ein Hemmschuh mit weltkonjunkturellen Streueffekten, die insbesondere der deutschen Exportindustrie auf die Füße fallen. In diesem Zusammenhang sollte man übrigens auch den möglichen Einstieg eines chinesischen Investors in die kritische Infrastruktur des Hamburger Hafens gründlich überdenken. Wer bereits abhängig ist, muss seine Abhängigkeit nicht noch steigern.
Vor diesem Hintergrund hält die Krisen-Stimmung in der deutschen Wirtschaft gemäß ZEW Konjunkturerwartungen an, die sich zuletzt lediglich auf dem tiefsten Niveau seit der Weltfinanzkrise 2008 stabilisieren konnten. Auch die in der nächsten Woche erwarteten ifo Geschäftsklimazahlen werden bestätigen, dass sich Deutschland klar auf Rezessionskurs befindet.
Ein massives Handicap bleibt der Energienotstand. Auf den ersten Blick lassen volle Gasspeicher und der Weiterbetrieb der drei verbliebenen Atomkraftwerke bis Mitte April die Energiekrise weniger schmerzhaft erscheinen. Die Regierung verteilt Beruhigungspillen. Dennoch warnt die Bundesnetzagentur weiter vor einer Gasmangellage. Ein kalter Winter würde die Schönwetter-Aussagen der Politik zur Makulatur machen. Im Übrigen geht es nicht primär um den Bestand, sondern den Zufluss an Gas. Zudem geht der hohe Füllstand vor allem noch auf das bis Sommer gelieferte russische Gas zurück, mit dem in Zukunft nicht mehr zu rechnen ist.
Und alternative Gasquellen brauchen noch viel Zeit, bis sie Abhilfe schaffen können. So bleibt das Risiko von Gasrationierungen - verharmlosend auch als Lastabwurf bezeichnet - eine Gefahr für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Überhaupt geht es weniger um den kommenden Winter, sondern vor allem um die nächsten zwei Wirtschaftsjahre, die Deutschland überstehen muss. Es ist zu hoffen, dass die teilweise geforderte Wirtschaftsschrumpfung vom noch vorhandenen gesunden politischen Menschenverstand verhindert wird. Denn fällt der Wohlstand dramatisch, ist die Demokratie in Gefahr.
Grundsätzlich zeigen die sich augenblicklich deutlich entspannenden Strom- und Gaspreise, dass man ihnen mit pragmatischer, ideologiebefreiter Angebotsverbreiterung das Wasser abgraben kann.
Wenn vorhandene Energiequellen (Kohle, Biomasse, Atom und erneuerbare Energien) vollständig und ohne festgelegtes Enddatum sprudeln, würde dies weitere Preisnachlässe nach sich ziehen und nicht zuletzt sinkenden Inflationsdruck initiieren.
Immerhin können börsennotierte Unternehmen ihre wirtschaftlichen Aktivitäten weltweit optimieren und sind nicht auf Deutschland und seine Politik allein angewiesen.
In den USA mehren sich mit zunehmenden wirtschaftlichen Reibungsverlusten die Anzeichen einer allmählich nachlassenden Preisgestaltungsmacht der Firmen. So zeigt die Umfrage der National Federation of Independent Business, dass der Anteil der Kleinunternehmen, die ihre Preise anheben wollen, rasch abnimmt, auch um den geringeren Wachstumsaussichten und den steigenden Lagerbeständen Rechnung zu tragen.
Inflationsberuhigend wird sich ebenso die massive Abkühlung am US-Immobilienmarkt auswirken. Zwar sorgen die im Augenblick hohen Mietpreise - mit einer Gewichtung von rund einem Drittel größte Komponente der Inflationsberechnung - noch für hohen allgemeinen Preisdruck. Historisch finden jedoch fallende Immobilienpreise mit einer zeitlichen Verzögerung von durchschnittlich 12 Monaten ihren Niederschlag auch in sinkenden Mietpreisen. Große US-Onlineplattformen wie rent.com oder apartments.com vermelden bereits erste Mietrückgänge in Großstädten.
Die US-Notenbank sieht mit Sorge aber auch auf die sinkende Marktliquidität bei US-Staatsanleihen, die als neuralgischer Punkt der globalen Finanzwelt gelten. Insgesamt wächst der Druck auf die Fed, den Restriktions-Bogen nicht zu überspannen.
Und die EZB? Selbst wenn sie in der kommenden Woche ihre Leitzinsen erneut um 0,75 Prozentpunkte anhebt, wird sie keine Geldpolitik betreiben, die den Namen restriktiv verdient. Die Verhinderung von Schulden- und Bankenkrisen oder sogar einer neuen Euro-Krise hat Priorität.
Insgesamt verabschieden sich die Aktienmärkte mehr und mehr von ihren Tiefs.
Fundamental liefert die US-Berichtssaison für das III. Quartal bislang allenfalls gemischte Vorzeichen. Der trübe Ausblick vom Aluminium-Riesen Alcoa als Seismograph für die Weltkonjunktur - Aluminium wird in Produkten vom iPhone bis zur Getränkedose verwendet - verstärkt die Sorgen. Auch die sprunghaft angestiegene Vorsorge für Kreditausfälle bei US-Banken unterstreicht die eingetrübte Konjunktur.
Insgesamt haben die Analysten in puncto Unternehmensgewinne die Netto-Gewinnerwartungen für Corporate America für die kommenden 12 Monate im Trend weiter gesenkt. Doch ist die Rezession und damit das Enttäuschungspotenzial auch der folgenden Berichtsaisons eingepreist wie das Amen in der Kirche.
Eine kurzfristige Parkmöglichkeit für nervöse Aktienanleger bieten zwischenzeitlich die Zinsmärkte. So können inflationsgeschützte 10-jährige US-Staatsanleihen (TIPS), mit 1,71 Prozent - höchste Realrendite seit August 2009 - einen deutlichen Vorsprung vor der nach Inflation aktuell negativen Gewinnrendite des S&P 500 erzielen.
Aus Sentimentsicht sind kraftvolle Zwischenerholungen bislang nur von kurzer Dauer. Sie werden durch kurzfristig orientierte Spekulanten ausgelöst, die an den Terminmärkten zwar auf fallende Kurse setzen. Jedoch müssen sie bei Kursanstiegen ihre Positionen zur Verlustbegrenzung glattstellen, was sogar zu einem „Überschießen“ der Kurse führen kann. Konkret, beim S&P 500 scheint es den „Shorties“ ab Kursen oberhalb von 3.700 Punkten tatsächlich wehzutun.
Was fehlt ist das Happy End, das nachhaltige, nicht nur zwischenzeitliche Abebben der bislang hohen Inflationsraten. Und wenn auch noch die US-Staatsanleiherenditen nicht mehr auf die letzten Zinserhöhungen negativ reagieren, weil sie ihr Ende antizipieren, ist der Boden an den Aktienmärkten endgültig erreicht. Dann fällt sogar das harte Wirtschaftsjahr 2023 nicht wirklich ins Gewicht. Denn der natürliche Feind der Aktienmärkte ist primär der Zins.
Tatsächlich erwarten laut Bank of America Global Fund Manager Survey immer mehr Investoren eine Wende der US-Zinswende und stehen mit der höchsten Kassenhaltung seit 2001 in den Startlöchern. Auch die starke Dominanz der Pessimisten an Wall Street gemäß der Befragung der American Association of Individual Investors ist ein ermutigender Kontraindikator. Im Lager der Bären ist kein Platz mehr.
Es ist immer mehr davon auszugehen, dass erwartete Negativ-Nachrichten nicht mehr zu nachhaltigen Abwärtsdynamiken führen, da Schnäppchenjäger bei niedrigeren Kursen zugreifen. Übrigens will ein Großteil der Unternehmen ihre zwischenzeitlich eingestellten Aktienrückkaufprogramme 2023 wiederaufnehmen.
Charttechnisch gilt: Solange beim DAX die 12.675 Punkte auf Tagesschlusskursbasis als Unterstützung halten, ist die Bodenbildung intakt.
Auf dem Weg nach unten liegen die nächsten bedeutenden Unterstützungen bei 12.539 und 12.518 Punkten. Werden diese unterschritten, sind weitere Kursverluste bis 12.380 und 12.355 einzukalkulieren. Orientiert sich der DAX weiter nach oben, liegen Widerstände bei 12.816 und 12.818. Darüber warten weitere Barrieren bei 12.850, 12.860, 12.932 sowie 13.040 Punkten. Um den Abwärtsmodus vollständig zu verlassen, müsste der DAX die Marke bei 13.565 nachhaltig überhandeln.